Florian Illies: 1913 Der Sommer des Jahrhunderts, S. Fischer 318 Seiten

Was ist das? Das Tagebuch eines Jahres aus der Sicht vor allem der Kultur. Sehr, sehr viele Maler und ihre Musen, sehr, sehr viele depressive, homosexuelle, lebensfrohe oder zweifelnde Autoren, sehr viele Figuren in ihren Anfängen, wie ein gewisser Adolf Hitler oder Ernst Jünger oder der Herr Wittgenstein. Und das macht Spaß.


Was war das für ein Jahr vor der ersten großen Katastrophe 1914? Das mit dem kältesten August des gesamten 20 Jahrhunderts zum Beispiel. Wie wir jetzt wissen. Wie wir überhaupt vor allem „jetzt“ wissen, was aus Picasso und Franz Marc und Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn und Charlie Chaplin, der Psychoanalyse, Farbfotografie und Arschlöchern wie Carl Schmitt oder echt liebesirren Typen wie Kokoschka geworden ist. Und so liest man auch amüsiert die Verrisse von Ausstellungen, die zum allergrößten Teil Kunst von Männern zeigten, die Heute jedes Museum auch 100 Jahre danach noch füllen würde. Damals waren aber Kirchner, Klimt, Kokoschka, Marc und all die anderen Avantgarde - heute sind sie Basis der „Moderne“.

Interessant (wenn auch so konstruiert wie der ganze Zusammenhang des Buches, ja, jedes solchen „Jahrbuches) die beiden Nullpunkte dieser Epoche: das schwarze Quadrat von Malewitsch und Macel Duchamps Fahrradfelge auf einem Stuhl - beides 1913. Auch wenn das natürlich nur in der Rückschau stimmt, es klingt irgendwie schlüssig.


Kunst nach der Kunst, Kunst ohne Inhalt, nur Abstraktion und Prozess und Haltung - alles Dinge, die wir heute zu genüge kennen, und fast über haben. Damals aber war James Joyce noch Lehrer und Marcel Proust fing erst an in seinen Erinnerungen zu wühlen und ein gewisser Musil musste sich von seinem Bürojob „krankschreiben“ lassen, (auch das ging damals schon), um „Der Mann ohne Eigenschaften“ schreiben zu können, während der nervige Kafka sich über hunderte Briefe hinweg nicht für seine Felice entscheiden kann und nicht nur sich selbst, sondern bald auch dem Leser und am Ende Felice richtig auf die Nerven geht.


Viel fing also damals an. Viel was heute „klassisch“ genannt wird, sind jene Riesen, auf deren Schultern alle stehen, die in Europa schreiben oder malen. Der Chronist dieses Buches weiß zwar, was kommt und das macht auch für den Leser sicher die Hälfte des Reizes aus. Aber glücklicherweise erspart uns Illies vermeintlich kluge Nachbetrachtungen, belässt es eher bei einem oft verschmitzen Kurzkommentar oder auch nur einer ironischen Note. Es gibt so gut wie keine Verweise in die Zukunft, die ja unsere Vergangenheit ist. Viele der Künstler, Männer wie Schnitzler und andere hatten offenbar Alpträume von Vernichtung und Tod (die ja wahr wurden), aber waren das Ahnungen, oder eben, ja, Täume? Die meisten hingegen fragten sich nur, was kann ich, was will ich und mit wem will ich ins Bett. Die Urfragen der Menschen zu allen Zeiten. Keine Vorahnung oder Avantgarde nirgends.


Dass ein Hitler damals vermutlich vor der Einberufung abhaute und dann in München mit seinen Bildchen nur so viel verdiente, dass er abends immer (!) eine Flasche Milch und ein Hörnchen aß und ansonsten offenbar langsam an seinem Größenwahn arbeitete - asexuell und eigenbrötlerisch - das wird, wie viele der Anekdoten in diesem Buch, vom schönen Gefühl des „Was wäre wenn...“ getragen.

Irgendwie beruhigend, in den schnellen Zeiten von Heute, dass aus unserer Gegenwart betrachtet so vieles, das vor 100 Jahren erdacht, gemalt, geschrieben noch immer richtig ist, noch immer gilt, noch immer schön ist, manches noch immer angewandt wird: Ob Psychoanalyse, Adolph Loos Baurichtlinien oder die Farbfotografie von Heinrich Kühn oder der Jazz.

Was wir heute „unsere Welt“  nennen ist keine andere als vor 100 Jahren. Damals war viel los und manches davon gehört zum Kanon der Weltkultur. Aber: Es ist die gleiche Welt: Sie bleibt nicht stehen. Alles hängt mit allem zusammen und der Großteil ist Zufall und bloß Begegnung. Zusammenhänge werden konstruiert, fallen fast nie jemandem auf, der zu der betreffenden Zeit lebt.


Eine erhellende, unterhaltsame Lektüre - aber jetzt verstehe ich, warum ich mit vielem von Kafka nichts anzufangen weiß oder warum ich Duchamp zwar nicht verstehe, aber doch sehr mag: er ist eben lässig. Auch heute noch.