Alice Munro: Selected Stories, Vintage Books, 664 Seiten

Sie wird immer wieder für den Nobelpreis gehandelt (NACHTRAG und hat ihn am 10.10.13 bekommen). Sie ist DIE kanadische Schriftstellerin neben Margaret Atwood. Und eine Autoren-Autorin dazu - also eine, die von Kollegen bewundert und gelesen wird, auf deren Verkaufszahlen sich das aber lange nicht auswirkte. Hier in Europa ist das Ganze noch schwieriger, weil die meisten Verlage und auch Leser Kurzgeschichten als so etwas wie ein Nebenprodukt der Romanproduktion begreifen. Was natürlich kompletter Unsinn ist. Aber erst mit Raymond Carver und dann in D Judith Hermann wurde das Genre als eigenständiges mehr verstanden. Aber nach wie vor kaufen Leute Kurzgeschichten eher nur von Autoren, deren Romane sie mochten.


Bei Munro ist das anders. Ihre Texte sind dermaßen kunstvoll und dicht und vielseitig und sprachlich brillant, dass man sich zwar auch einen ganzen Roman vorstellen kann, aber sie schreibt eben keinen. Braucht sie nicht. DAS ist ihre Form seit über 40 Jahren!


In diesem Wackerstein von Buch sind 29 Geschichten zusammengefasst, von der Autorin selbst ausgesucht und eingeleitet. Chronologisch von 1968 bis 1993 angeordnet, wird darin auch die Entwicklung einer ganz großen Schriftstellerin deutlich, ihre Themen, die Variation von Motiven, die Stimmung und die sprachliche Bandbreite ihres Werks. Beeindruckend ist wohl das passendste Wort.  Wer auch immer denkt, Roman sei die Königsdisziplin, sollte das hier lesen. Wie beim Sex ist Länge nicht das Entscheidende.


Die Geschichten sind unterschiedlich lang, es gibt ein Story-Quartett, in dem ein und dieselbe Hauptperson an verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens erzählt wird. Geographisch finden fast alle Geschichten an der Ostküste Nordamerikas statt, auf dem Land mit ebensolchen Landleuten. Einsame Farmen, verschrobene Männer und Frauen, Dorfidyll und Dorfhölle in einer Zeit von den 20er Jahren bis in die Gegenwart. Gleich die erste Geschichte „Walker Brothers Cowboy“ setzt den Ton für das ganze Buch: Ein Vater fährt mit seinen Töchtern statt auf Verkaufstour zu gehen (er ist Vertreter) zu einer Exfreundin. Die Spannung in seiner Ehe, die wirtschaftliche Situation (es sind die 30er Nach-Depressionsjahre), die geplatzten Träume, die Sehnsucht nach der eigenen Jugend, als das Leben noch vor einem lag und man sich einfach verliebt sowie das „wird schon alles gut“ Schauspiel und das „ist nur eine alte Bekannte Schauspiel“ für die Kinder, die ahnen, was los ist - das ist so kunstvoll angedeutet und doch offensichtlich, dass man sie wieder und wieder liest und sich fragt: Was macht die Magie dieser Erzählung aus?


Dann die Geschichte „Images“, eine klassische Kurzgeschichte: Tochter und Vater fliehen vor der Enge eines Hauses in die Wälder zum Jagen und begegnen dort einem sehr eigenartigen Typen. Wie die Tochter dem Vater in seiner Reaktion vertraut und die beiden später die Begegnung zum gemeinsamen Geheimnis der Mutter gegenüber machen, lässt einen wie eben in einer guten Short Story noch viel mehr sehen und ahnen, als diese eine Begebenheit im Leben der beiden. Wir ahnen etwas über das Verhältnis in der Zukunft und dass dieses Erlebnis eines Tages eine wertvolle Erinnerung sein wird für das Mädchen.


In vielen Geschichten geht es um die Familie und wie sie miteinander agiert, meist die Töchter und ihre Väter und Mütter. Munro hat die Bezeichnung als „Frauen-Autorin“ zu recht immer von sich gewiesen. Was soll das auch sein? Sie erzählt Geschichten, in denen fast immer Mädchen und Frauen die Hauptfiguren sind. In den Konflikten innerhalb der Familie, den schweigsamen Autofahrten und der Wahrnehmung der Kinder, dem Blick auf die eigene Ehe oder den Umgang mit ihnen liegt viel Wahrheit und Klarheit und auch Kritik. Die Sprache, mit der Munro das schildert ist nie oberflächlich, aber auch nie impressionistisch oder nur beschreibend - in ihren Schilderungen der Dinge und Orte, wie sie sich kleiden und wie sie sprechen - das alles ist verknüpft mit Gedanken, Gefühlen und Verhalten. Lieder werden eingeflochten, kurze Gedichte. Dialoge gibt es natürlich, aber so gar nicht wie in der lange sehr populären Literatur (z.B. auch von Carver) bestehend aus spröden Dialogen und ganzen Dialogseiten wie in Drehbüchern. Bei Munro sind Dialoge selten, deswegen wird trotzdem nicht viel psychologisiert. Es werden Handlungen und Gedanken geschildert. Und manchmal reden die Figuren auch.


Eine Geschichte fällt aus dem Rahmen, weil sie sich um einen Autoren dreht - einen Beruf, der in allen anderen Geschichten nicht auftaucht. In „Material“ rätselt die Ex-Frau eines erfolgreichen Autors über seine Art die Welt zu sehen, in der sie viele Dinge erkennt, die mal ihre gemeinsamen waren. Aber in der Geschichte wird offenbar, wie sich wahre Geschehnisse und eine daraus entstandene Geschichten zwar ähneln, aber völlig anders konstruiert und auch wahrgenommen werden. Skurrile Charaktere wie die Dotty in dieser Geschichte sind hilfreich für einen Autor, aber es muss um mehr gehen, als nur die Beschreibung einer Exzentrikerin. Und indem Munro noch weitere Ebenen einbaut, wie die Frau die sich erinnert an ihren Mann, wie sie die Geschichten wahrnimmt, wie in Gedanken an ihren Ex ihr heutiges Leben betrachtet - das ist großartig.


Es gibt dieses Erzählungs-Quartett um Rose, eine Frau aus einfachsten Verhältnissen. Ein Kind in der Geschichte „Royal Beatings“ und den Kampf mit ihrer Stiefmutter und ihrem Vater um Autorität und Liebe. Dann, in „Wild Swans“ wie Rose in einem Zugwaggon von einem Priester betatscht wird - wie Leute scheinen, was sie reden, und was die dann tun. „The Beggars Maid“ ist die Geschichte um Rose und Patrick, ihren Mann aus gutem sehr gutem Haus. Ihre Ehe ist aufgrund der sozialen Unterschiede schwierig, auch weil Rose so eigenartig auf seine Liebe reagiert und weiß: dieses Leben wäre ein Erfolg, die Leute zu Hause würden staunen. Aber ist das das Leben das sie will? Und schließlich in der grandiosen „Simons Luck“ ist die erwachsene Rose, nach vielen Umwegen recht erfolgreiche Schauspielerin, hat ihr Leben nach eigenen Ideen gelebt und ist doch allein. Sie verliebt sich Hals über Kopf in einen Mann und macht, als er sich nicht meldet ganz und gar Teenie-mässig den Stress nicht anrufen, aber neben dem Telefon sitzen, die Kabel kontrollieren, weil es nicht klingelt, arbeiten gehen, aber denken, vielleicht ruft er gerade dann an, tut er aber nicht, und dann nichts essen, nicht schlafen und warten. Am Ende abhauen. Nicht für ein Wochenede, sondern aus diesem Leben, alles aufgeben, weil er nicht wiederkam. Aber: Sie findet einen viel besseren Job, wird noch berühmt und erfährt dann auch eines Tages, warum der Mann sich nie meldete.


Und so könnte man weiterberichten von den jedes mal großartigen Geschichten. Interessant vielleicht noch, dass Munro selbst Geschichten nie von vorn nach hinten liest, sondern irgendwo beginnt, vor und zurück blättert und dann vielleicht ganz liest. So habe ich es auch mit diesen 29 tollen Erzählungen gemacht: manche lässt man auch aus nach 15 Minuten des Lesens hier und da, wird dann aber von der nächsten hineingesogen. Wie das Leben, so das Buch.