Ian McEwan: Am Strand, Diogenes, 207 Seiten

So richtig Beklemmung kommt erst auf den letzten Seiten auf. Die allerdings lassen alles zuvor Geschehene in anderem Licht erscheinen, das ganze Buch wird so ein anderes. „Am Strand“ handelt vom zu-früh-kommen - sowohl sexuell wie kulturell. Und obwohl es nur eine Sexszene gibt die wohl in Echtzeit 3 Minuten umfasst, geht es fast im gesamten Buch um Sex. Sex und Liebe seien zwei unterschiedliche Dinge sagt man. Auch wenn das prinzipiell richtig ist, sie sind allerdings untrennbar miteinander verwoben und scheitert das eine, kann das andere nicht weiterleben.


Im Grunde ist das Buch die ganz kleine „Zweierkiste“ (um ein Schlagwort der 60er aufzugreifen), die in diesem kurzen Roman erzählt wird. Der Zeitpunkt ist entscheidend. Es sind die frühen 60er Jahre, die ersten Zeichen des gesellschaftlichen Aufbruchs sind schon spürbar, andere Musik, andere Denkweisen entfalten sich langsam bei den jungen Leuten. Zwar eher als „man könnte ja mal“ als tatsächlich im Tun, aber immerhin. Die meisten jungen Männer und Frauen sind noch gebändigt und geformt von den festen gesellschaftlichen Klassen und Konventionen in England der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Oberklasse, Unterklasse, Elitedünkel und Arbeiterstolz. Ehen schließt man, weil man das eben tut, auch aus Liebe, eine Frau geht in bestimmten Kreisen als Jungfrau in diese Verbindung und als Schwiegersohn tritt man noch selbstverständlich beim reichen Schwiegervater in die Firma ein. Von Sex, wie er geht, was man tun soll und was er bedeutet haben beide Geschlechter nur Kenntnis von Hören-Sagen.


Da ist aber ein Widerwille bei Edward gegen all das. Und bei ihm und seiner Freundin auch ein zartes Selbstbewusstsein der eigenen Wahrnehmung, den eigenen Gefühlen und nicht gesellschaftlichen Konventionen zu trauen. Bei Edward sieht man einen körperlichen Bewegungsdrang, der dem geistigen vorauszugehen scheint, Radfahren kreuz und quer ohne Ziel, einfach mal nach London abhauen, sich gern mal in eine Schlägerei verwickeln lassen und erst mittendrin sehen, was passiert. So wird er auch sein Leben führen. Edward ist Anfang 20,  aus einfachen Verhältnissen, mit einer geisteskranken Mutter, der sich auf dem College schämen muss, dass er die Namen von Tieren und Bäumen genau kennt und mit seiner Anti-Atombomben Aktivismus und seine Ideen Bücher über die Randfiguren der Geschichte zu schreiben etwas wie ein Prae-Links-Intellektueller.


Seine Freundin und spätere Frau Florence kommt aus geradezu progressiven, sehr wohlhabenden, aber kühlem Elternhaus. Es gibt Andeutungen von sexuellen Übergriffen, wenn auch nur als Erinnerungssplitter von Florence geschildert, ganz unverfänglich und unbedrohlich. Auslegungssache für den Leser. Tatsache ist, dass die Perfektionistin Florence in ihrer Musik (sie leitet ein Kammerochester) ihre Gefühle, ihre Leidenschaft auslebt. Ansonsten ist sie wohl, was man abfällig einen „kalten Fisch“ nennt. Körperliches von Küssen bis Unten-Anfassen usw. findet sie abstoßend, widerlich und obskur.

Da wird dann ihre Angst bis zu Lähmung und Edwards Lust bis zum Zittern der Drehmoment für die Geschichte und die Leben der beiden: In der Hochzeitsnacht soll/muss es passieren. Und es passiert auch etwas - und zerstört ihre Leben. Weil sie vielleicht beide zu früh und doch nicht reif und weit genug waren in ihren Ansichten, in ihrem Willen über Dinge zu reden die so enttäuschend waren, dass sie an der Wurzel der Persönlichkeit sägten.


Während die ersten 200 Seiten en Detail Gespräche, Berührungen, Herkunfts- und Familiengeschichten in Zeitsprüngen rund um die Hochzeitsnacht erzählen, schildern die letzten drei Seiten die 40 Jahre, die auf die Hochzeitsnacht folgen sollten. Die Beklemmung, Traurigkeit und verpasste Gelegenheit, die EINE Gelegenheit, die zwei Leben für immer verändert, weil die beiden jungen Menschen an der Schwelle zu einer neuen Zeit nicht gemeinsam hinübergehen konnten.