RE-Read: Ian McEwan: Amsterdam, anchorbooks, 193 Seiten

Es gibt diese Zeiten, da muss man McEwan lesen. Es gibt kaum ein Buch, das keinen Sog entwickelt und dabei zugleich hintergründig und unterhaltsam bis spannend wäre. Die Sprache ist klar und voller aufmerksamer Beobachtungen und erschafft lebendige Figuren - widersprüchlich, liebenswert, ambivalent wie wir alle. Und in welcher Kürze McEwan von viel mehr erzählt, als von diesen Figuren, nämlich von einer Zeit, einem Zeitgeist oder gar einer Ära (wie in Atonement) - das beeindruckt.


Amsterdam habe ich vor etwa 12 Jahren gelesen. Alles Zutaten der typischen McEwans sind hier vorhanden: Die Liebesverstrickungen, die sowohl von Gedanken wie Handlung der Figuren getragene Geschichte, die künstlerisch ambitionierten Figuren oder geistig wachen Typen, die moralischen Dilemmata der allermeisten dieser Figuren, und die große Freude, den Leser ständig mit der Frage zu konfrontieren: Wie würdest du reagieren, was wäre „richtig“ zu tun?

Auftakt ist die Beerdigung von Molly, einer sehr eigenwilligen Frau, die mal die Geliebte dreier dort anwesenden Männern war. Oder besser sollte man sagen: SIE waren ihre Geliebten, denn keiner konnte sie vergessen, sie wurde zur Freundin während sie in einer bizarren Mischung aus Else Lasker-Schüler und Femme Fatale ihren Weg ging seit den wilden 60ern. Zwei ihrer Ex sind Clive und Vernon: Clive ist Komponist, gerade befasst eine Milleniums Symphonie zu schreiben, Vernon ist Chefredakteur bei einer Zeitung in der Krise. Auf der Totenfeier begegnen die beiden sowohl ihrem jetzt Ehemann und Nachlassverwalter, den alle verachteten und sich Mollys Sterben in seiner Nähe als Hölle vorstellen und sie begegnen dem derzeitigen Außenminister Großbritanniens, der mit Molly befreundet war. Offenbar.


Was dann auf knapp 200 Seiten in immer groteskeren aber grandios strategisch gebauten Kapiteln erzählt wird, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Analyse des künstlerisch-medialen Selbstüberschätzung und Verkommenheit der ehemals politisch bewegten, einer jetzt nur noch Karriere- und Geldbewegten 68er Generation voller Dünkel und Doppelmoral. Man denkt unwillkürlich an die deutschen Ableger dieser Spezies: Großmäuler, Machos und Macher, die nicht selten ebenfalls an ihrer eigenen Hybris zerschellten.

So wird es - am Ende karrikaturhaft - auch Clive und Vernon ergehen. Der eine darum bemüht über Fotos von Molly einen Skandal um den Außenminister zu kreieren, der andere zwischen künstlerischen Selbstzweifeln und Selbstüberschätzung, eigenen Genievorstellungen hin und herwechselnd.

Als Leser schwankt man die ganze Zeit ebenfalls, findet die Entscheidungen der beiden Männer mal nachvollziehbar und richtig, dann wieder verachtenswert, feige und amoralisch - manchmal über nur wenigen Seiten hinweg von der einen zur anderen Position wechselnd. Weil McEwan so geschickt Innen- und Außenperspektive switcht, dass gerade, wenn man denkt, „so ist der also, deswegen macht er das“, weiteres Geschehen und neue Informationen das wieder in Frage stellen.

Amsterdam ist ein Krimi ohne Mord (zunächst), ein Medienthriller, der mitunter an den Film „13 days“ erinnert, in dem aus der ganz und gar autistischen Sicht der amerikanischen Administration die Kubakrise und der Fast-Weltkrieg erzählt wird. Wie dort entsteht die Spannung durch die fehlenden Informationen und die da existenzielle Frage: Was sollen sie tun, wie müssen sie entscheiden?


Amsterdam heißt das Buch, weil es in der Stadt endet. Und als Leser ahnt man auch, wie McEwan auf den Stoff gekommen ist, oder was Auslöser für den Roman, oder zumindest das Finale gewesen ist: Die Debatte um Sterbehilfe in den Niederlanden Ende der 90er. Darin ja schon enthalten eine große Moralfrage, Antrieb auch dieses Romans. Ein gelungener Re-Read auf ganzer Linie inklusive des wohlig warmen und dann unaufhaltsamen McEwan Stil.