W.G. Sebald: Auf ungeheuer dünnem Eis - Gespräche 1971-2001, fischer 280 Seiten

Ein komischer Autor, dieser Sebald. Seine Bücher klingen nach 19. Jahrhundert, sind aber thematisch totales 20. Jahrhundert - Krieg, Holocaust, Vertreibung, Bombenkrieg. Personen ohne Heimat, die Familie und Herkunft fast vollständig verloren hatten nach dem 2. Weltkrieg, sie nannte man DPs - Displaced Persons. Eine solcher ist auch derAutor, sind seine Figuren in den nur wenigen, aber allesamt großartigen, ja einzigartigen Büchern.


Wie so mancher Leser von Sebald, fand ich ihn wie einen Re-Import, beziehungsweise wie Literatur aus einem anderen Land, obwohl er ein deutscher Autor ist: Thematisch, in seiner Akribie, den Bandwurmsätzen und seiner stilistischen Brillanz, die an all die Geistesgrößen von früher (und ein paar von Heute) erinnert. Er lebte den größten Teil seines Lebens in England und gilt in den USA seit seinen ersten Veröffentlichungen in den 80er Jahren (Die Auswanderer) als intellektuelles Großereignis (mit Lobgesängen damals von Susan Sonntag u.a.).

Nur: Hier hat davon kaum jemand über das FAZ Feuilleton hinaus mitbekommen, konnte man meinen. Erst spät wurde seine Klasse breiter bekannt, aber es gibt auch sicher heute noch belesene und literarisch Interessierte, die seinen Namen noch nie gehört haben.


Na klar, in einer Literaturbranche, die 2010 insgesamt 14.500 Titel (nur Belletristik) veröffentlichte, steht einen Autor, der erst mit 40 anfing fiktional zu schreiben und ein Melancholiker vor dem Herrn ist und der alles andere als Unterhaltungsliteratur (dabei sehr sehr unterhaltend und LEICHT zu lesen) schreibt, sie steht so einem eher distanziert gegenüber. Michael Krüger von Hanser, ist vermutlich einer der letzten Verleger, die einfach fast immer wissen, was richtig ist. Dort erschienen all seine Bücher.


In diesem Band „Auf ungeheuer dünnem Eis“ sind Gespräche gesammelt, die der Autor mit verschiedensten Leuten meist zum Erscheinen eines seiner Bücher über die Jahrzehnte geführt hat - im Radio meist. Wer einige Werke kennt, wird bestens informiert über Sebalds künstlerische Agenda, seine literarischen Vorbilder und seine Art zu arbeiten, über die tragenden Ideen in den einzelnen Werken, seinem Blick auf die Welt und die Literatur.


Aber darüber hinaus ist zu erfahren, wie er auf die Idee kam, Fotografien in seinen Texten auftauchen zu lassen, die zum Teil das unglaubliche, das dort erzählt wird, mit einem Bild belegen oder auf eigentümliche Weise konterkarrieren oder unterstreichen. Die Bilder erden den Text, sind in ihrer Beiläufigkeit aber auch Kontrakpunkt zu der unglaublich komponierten Sprache Sebalds, die sie umgibt. Wie Fotografie und Text wirken, wie sie einander befruchten und befeuern und wie ein einzelnes Foto, Ausgangspunkt für ein ganzes Buch sein kann, das ist hier zu lesen.


Nicht jedes Interview ist gelungen, manchmal schwurbeln Interviewer und Autor auch allzu sehr vor sich hin, aber: Es gibt selbst dann etwas über den Denkprozess und die Poetik dieses hochsensiblen, sprachlich filigranen und dabei mitreissenden Autors zu lernen.

Sebald wird bestimmt eines Tages in einer Reihe mit den großen Autoren des 20. Jahrhunderts aus Deutschland genannt. Sein Tod bei einem Unfall trägt irgendwie zu seinem tragischen Verschwinden und Auftauchen bei, das auch seine Figuren als ihr Leben erzählen.