Haruki Murakami: Wie ich eines Morgens im April das 100%ige Mädchen sah 186 Seiten UND: Mr. Aufziehvogel, Random House 765 Seiten

Es gibt vermutlich keinen japanischen Autor, der so wenig über Japan erzählt. Seine Geschichten könnten überall spielen, auch wenn die Namen und Orte eben japanisch sind. Das Japan des Murakami hat nichts mit dem Japan des gleichen Namens zu tun, was ja für fiktionale Literatur oft gilt, bei diesem Autor aber deutlich gesagt werden muss. Es gibt in Murakamis Büchern so gut wie keine Hinweise auf japanische Kultur, Geschichte, Politik, Essen, Musik, Theater oder sonst etwas spezifisches. Jemand schrieb mal, Murakami schreibe auf Japanisch so, als wenn sein Japanisch aus dem Englischen übersetzt sei. Und tatsächlich hat er so angefangen: er schrieb seine ersten Geschichten auf Englisch und hat sie dann übersetzt und so seinen Murakami-Ton gefunden. Der ihn wohl zum erfolgreichsten internationalen Autor macht neben all den Amerikanern auf dem Weltbuchmarkt. Und einige seiner Bücher haben wirklich etwas  mysteriös überweltliches mit Anknüpfungspunkten an die Welt, wie wir sie kennen. Das macht sie aus. Und einige seiner Bücher scheinen doch wie eine Karrikatur der Murakami Literatur, zu sein - aber vom Autor selbst geschrieben.


Vor einer Weile wurde mir nach der Lektüre einiger älterer Murakamis Mr. Aufziehvogel ans Herz gelegt: Der Sommerurlaub stand an und es bot die Chance das dicke Buch in aller Ruhe durchzuarbeiten. Unmöglich! Ob es am Sommer oder am Buch lag - die auf den ersten 150 Seiten verteilte  Aneinanderreihung von wie mit dem Ziselierpinsel gemalten Details von Leuten, die vollkommen uninteressant sind und uninteressante Geschichten erzählen, von Katzen und leeren Häusern und Mädchen in Pubertätskrise und Brunnen und wurden mit jeder Seite jenseits der 150 nicht mehr erträglich. Es muss nicht immer was passieren in Geschichten, aber IRGENDWAS muss doch mal passieren.

Ich vermute, dass das Ganze so weitergeht und am Ende nach über 600 Seiten dazu wie üblich in alle möglichen Richtungen määndert und dabei eventuell auch Momente der Erkenntnis schafft - aber die Sprache gibt es  nicht her, dass man soviel Zeit auf so wenig Leseerlebnis und Erkenntnis zieht. Sätze wie: „Ich nahm die Zigarette. Ich zündete sie an. Ich zog daran. Wartete einen Moment und atmete den Rauch aus, dann schnippte ich die Asche in den runden Aschenbecher, den ich zuvor auf den Tisch gestellt hatte....“ machen einen irgendwann wahnsinnig. Figuren, die in ihrer Antriebslosigkeit verharren, bis etwas passiert, um dann die ganze Zeit darum zu kämpfen, wieder teilnahmslos sein zu dürfen - unerträglich. Abbruch der Lektüre auf Seite 175.


Was mich nicht davon abhielt einige Wochen später den kurzen Band von Geschichten mit dem tollen Titel „Wie ich eines Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ zu lesen. Ein Buch das mich schon vor Jahren allein wegen des Titels immer angezogen hat.

Bei zehn zum Teil sehr kurzen Stories musste doch etwas dabei sein, das mehr als nur Fingerübung des Autors zwischen seinen großen Buchprojekten ist. Tatsächlich ist die titelgebende Geschichte auch eine der besten. Eigentlich nur eine Skizze von eine Begegnung, aus der ein ganz anders Leben hätte entstehen können, mit einem leicht Drift ins Übernatürliche um am Ende ganz nüchtern zu enden. Toll. Es folgen bizarre Erlebnisberichte von Japanern in Lederhosenläden in Hamburg (!) (Lederhosen) und die Bruder Schwester Familienbeziehungsgeschichte, die auch wieder einen typischen Murakami Mann aufweist: sexuell aktiv, in sich gekehrt, antriebslos und doch geistig tätig (Familiensache). Es folgt eine kurze über einen professionellen Briefeschreiber, die sehr dahinerzählt wirkt und eine weiter Geschichte über die „TV-People“, die mich ein wenig an Hardboiled Wonderland erinnerte und für Metaphern und Symboldeuter einiges bietet, wenn man die kleinen Männchen, die überall Fernsehen aufstellen, gesichtslos sind, aber die Macht haben, ihre Umwelt zu verändern, betrachtet.


Interessant noch die Geschichte „Schweigen“, wie so oft erzählt aus der Perspektive eines Manner, der einem anderen Mann eine Geschichte erzählt. Gewissermaßen autentifizierte Fiktion durch Zeugenschaft. Darin geht es um eine Coming of Age Story eines Jungen, der (wiedermal) viel liest und in sich gekehrt ist, sich nicht für gute Noten, dafür aber fürs Boxen interessiert und der typisch klug schweigende Aussenseiter ist. Durch eine Intrige durchlebt er eine harte Schulzeit, weiß dafür nachher, was er alles kann und wer er ist. Nun ja, recht holzhammerig, aber angenehm zu lesen.


Vollkommen bescheuert die Geschichte vom „tanzenden Zwerg“: Körperklau durch Zwergenzauber und ein Balztanz ums schönste Mädchen der Fabrik.

Mit einer weiteren Geschichte aus dem reichen Fundus „Verwirrter junger Mann sucht Weg ins Leben“ (Der letzte Rasen am Nachmittag) kommen dann aber Geschichte und Murakami Ton nochmals zusammen: Einfach gesetzt geht es um einen jungen Mann, der an seinem letzten Arbeitstag als Rasenmäher bei einer einsamen Frau mäht und verwöhnt wird, ein wenig redet in diesem heißen Sommertag und von ihr durchs Haus geführt wird. Es liegt Sex in der Luft, es blitzten Zusammenhänge und Nebengeschichten auf, die aber nie vertieft werden, man ahnt vom Unglück der Frau, fragt sich, was aus der Tochter wurde, in deren Zimmer sie dem jungen Mann etwas zeigt. Schließlich findet der Mann aus der Tür hinaus und in sein Leben. Man kann förmlich greifen, wie er eines Tages, als Mann über 40 an diesen Nachmittag denken wird und sich fragt, was alles möglich gewesen wäre.


Und mit diesem Thema, was vielleicht möglich gewesen wäre, schließt sich der Kreis der Erzählungen begonnen mit dem 100%igen Mädchen bis hin zum Rasenmähermann. Da mag man ihn dann wieder diesen eigenartig unsentimentalen, unpathetischen, unprätentiösen, unverwechselbaren Murakami. Aber in Zukunft Murakami bitte ohne mich.