Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, suhrkamp, 200 Seiten

Eher durch Zufall, weniger aus psychoanalytischem Interesse bin ich auf dieses Buch gestoßen. Die Vererbung von Schuld, die Unfähigkeit den Schatten der eigenen (familiären) Vergangenheit abzuschütteln, die Erkenntnis, doch eben das Echo der eigenen Eltern zu sein, bei allen Widerstandsversuchen - diese Dinge habe ich vor allem aus Romanen und Filmen gelernt, nicht aus Sachliteratur. Dennoch hatte mich das Buch der Mitscherlichs über „Die Unfähigkeit zu Trauern“ im Kontext der Nazivergangenheit oder Bücher von Harald Welzer über die psychohygienischen Mechanismen der Familie fasziniert.


Nun hat gute psychoanalytische Literatur durchaus auch die Fähigkeit Literatur zu sein, Vater Freud ist ja nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Autor ein Großer. Und Psychoanalyse wie Psychotherapie arbeitet mit Erzählungen, Biografien und dem Versuch, Geschichten zu erzählen, um sich oder anderen etwas zu erklären und im besten Fall nachfühlbar (und dadurch echt) zu machen. Es geht - das sicher ein großes Mißverständnis der Disziplin - gerade nicht um rationale Erklärungen, um intellektuelle Durchdringung, sondern um Fühlen und Erleben, das ermöglicht werden soll durch das Gespräch.


Millers Buch ist gewissermaßen ein Klassiker der 70er Jahre geworden, in denen das Kindsein neu entdeckt und die Formen der elterlichen Herrschaft über das Kind hinterfragt wurden, weil die Gesellschaft als Ganze ihr Verhältnis zu Autoritäten hinterfragte. In den krassesten Ausformungen der Zeit entstanden damals anti-autoritäre Kindergärten, die aber auch nur ideologische Systeme waren - wenn auch am anderen Ende der bis dahin üblichen Erziehungsweisen.

70er hin oder her: Was Miller schreibt, ist noch immer aktuell, und man kann es gewinnbringend und erhellend studieren, ohne die enthaltenen Debatten über die Relevanz des freudschen Triebmodells oder die Frage, ob Miller nicht „sauber“ psychoanalytisch arbeitete mit diesem Buch miteinbeziehen zu müssen.


Das Buch besteht aus drei Beiträgen: Das Drama des begabten Kindes und die narzißtische Störung des Psychoanalytikers. Dann aus Depression und Grandiosität als Wesensformen der narzißtischen Störung sowie den Text Über die Verachtung.

Alle drei befassen sich im Kern mit der Frage, wie Eltern, die selbst eine Störung aufweisen beim emotionalen Umgang mit den Dingen des Lebens, diese Störung an ihre Kinder weitergeben, so dass diese das dann dasselbe mit ihren Kindern tun und immer so weiter. Bis der Kreislauf durch einen Analyse durchbrochen wird und sich der Mensch den Ursachen seiner Depression/seiner Perversion/ seiner Neurosen etc. stellt, die laut Miller fast immer in seiner Kindheit zu suchen sind. Da werden wir eben geformt wie Ton, der dann aushärtet.


Nicht einfach, dass Mama oder Papa das Kind „nicht lieb hatten“ oder überfordert waren. Häufig sind es über Jahre angewandte subtile Formen der Demütigung und Missachtung des Kindes, nicht böswillig, sondern vielleicht in der festen Überzeugung, gute Erziehung zu leisten. Die meisten Eltern würde ihr Handeln niemals als schädlich oder überhaupt negativ erscheinen. Die Eltern würden sicher sagen, dass sie ihre Kinder lieben und sie tun auch viel für ihre Kinder.

Aber an bestimmten Punkten der Emotionalität versagen sie, weil sie es selbst nicht anders kennengelernt haben.


Was ein Mensch, also auch ein Kind tut, wenn es sich nicht verstanden fühlt von den Eltern, wenn es Angst hat ureigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ist diese Gefühle von Zorn, Wut, Angst oder Ohnmacht zu unterdrücken, weil es fürchtet, bei Fehlverhalten von den Eltern nicht mehr geliebt zu werden. Gewissermaßen die Urangst gegenüber dem Urvertrauen, dass zwischen Mutter und Kind herrscht oder herrschen sollte.


Faszinierend fand ich die Linien, die Miller nachzeichnet, wie die (unterdrückten) Gefühle der Eltern Spuren in der Seele der Kinder hinterlassen. Wie die Unfähigkeit traurig zu sein, wie man als Kind behandelt wurde, ja die totale Verdrängung über diese Tatsache, die Einsamkeit die man empfunden hat oder die Angst vor Verlust, als Erwachsener zu allerlei obskuren Störungen Perversionen und Neurosen führt, die nicht unbedingt pathologisch sein müssen, aber dennoch, sollte man selbst Kinder bekommen, an diese weitergeben werden.


Der Intellekt ist keine Hilfe, denn selbst wenn man sein Tun erkennen sollte, erschreckt über die Sprüche des eigenen Vaters, die man sich selbst sagen hört, dann ist noch nichts gewonnen. Denn erst (so Miller) das Durcharbeiten in der Analyse, das nochmals Fühlen als Kind ist in der Lage, den Bann zu brechen.

Und auch interessant ihre These, dass so viele Menschen Analytiker werden, gerade weil sie so eine Kindheit erlebten, in der sie aus Angst vor Verlust der Liebe ihrer Eltern zu hochsensiblen, aufmerksamen, sozialen Wesen wurden und im Beruf des Analytikers ihre eigene Geschichte verarbeiten sowie ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen können.


Ein Büchlein für werdende Eltern, das so gar nichts von den üblichen Ratgebern dieser Art hat. Es macht einem eher ein bisschen Angst, indem es zeigt, dass wir bei allem Verstehen und Mühen und Gutes wollen nur begrenzt in der Lage sind, dem zu entkommen, wer wir wurden was wir sind.