Rafael Horzon: Das weisse Buch, suhrkamp, 218 Seiten

Was ist das? Und warum? Sind nur zwei Fragen die während und nach der Lektüre auftauchen. Und mal mit ja, mal mit möglich, mal mit auf keinen Fall zu beantworten sind. Und so ist es gewollt. Dummköpfe nennen es wohl einen Schelmenroman. Ernsthafte Rezensenten dagegen eher ein ironisches Meisterwerk der Berliner Republik, ein Österreicher nennt es vermutlich einen Schmarrn. Alle haben Recht. Da ist dieser Horzon im Buch, der dem echten Horzon nicht nur ähnlich ist, sondern auch die gleichen Dingen tut wie der. Er beschreibt also sein Ankommen (nach Lehrjahren in Paris, natürlich) als fließend Lateinisch sprechender Alles-Könner in Berlin, wo alsbald sein kometenhafter Aufstieg dank des von ihm erfundenen dritten Wegs beginnt: Interessante Sachen machen, die nicht Kunst sind. Die neue Wirklichkeit. Drunter geht es nicht. Etwas, das in Berlin geradezu unmöglich und eigentlich blasphemisch anmutet.


Und so eröffnet er eine  Wissenschaftsakademie, an der Leute Vorträge halten und die Zuhörer Diplome bekommen, verkauft Regale und Apfelkuchen und scheitert mit ein dutzend anderer Ideen, die aber dann doch gelingen, weil er ja sofort zurückschreckt, wenn etwas zu erfolgreich wird. Er schreibt natürlich auch Theaterstücke (die nicht Kunst sind?) und reist wie Kerouac oder Proust oder trifft alle, die in Berlin einen Namen haben, ist bei allen Eröffnungen von Galerien, Restaurants, Clubs, Bars und hippen Zeug dabei, weil die alle indirekt oder direkt natürlich auf seine Ideen zurückgehen. Ein wilder Zitatewald. Der Horzon im Buch ist in seinem Palaver eine Mischung aus Ditsche und Ed Wood mit einem Anteil Renaissance Mensch. Seine Gelassenheit, mit der die verrücktesten Ideen von irgendwem ernst genommen werden (z.B. von Berliner Verwaltungen, deren Antworten auf Anfragen und Vorschläge er abdruckt), wirken erleichternd. Man wünscht dem Mann das Beste, aber fragt sich, warum.


200 Seiten abstruse Geschichten und Ereignisse, alle werden reich und berühmt in Berlin Mitte, er ist dabei, alle Namen werden gedroppt, die in Berlin im Grill Royale, im Cookies oder rund um die Neue Mitte sich postieren. Das schönste am Buch ist wohl sein ironiefreier Humor, mit dem er das Tun und Treiben all der Künstler und Mover & Shaker der Hauptstadt begleitet (deren Namen manchmal falsch geschrieben sind), gern so wäre und doch eigentlich einer von ihnen ist: weil er sie kennt und SEINE Projekte macht. Das ganze Buch, der ganze Horzon ein einziges Paradox. Ohne Projekt geht nix in Berlin. Der Anspruch des Buch-Horzon, interessante Dinge zu tun, die nicht Kunst sind, weil nach Duchamps Pissoir, eigentlich alles Kunst sein kann und damit nichts mehr Kunst ist, den erfüllt er voll und ganz. Begleitet von lateinischen Sinnsprüchen, absurden Dialogen und Begegnungen, Ausbeuter-Unternehmertum und Dandygetue. Kampf gegen Ikea, Ideen für ein einheitliches Berlin, ein Laden mit einem Stuhl aus Apfelkisten, ein Apfelkuchenladen, eine Designer Kollektion - das sind nur einige der Ideen.


Was auffällt: keine Handys, keine Fernseher, kein Internet - eine heile Welt. Ausstellungen gibt‘s schon, weil er ja das Konzept für Berlintokyo entwarft, eine Galerie, die japanische Kunst von nicht-existenten japanischen Künstlern verkaufte (eine Reise nach Düsseldorf, japanische Produkte wie Chipstüten kaufen, in der Galerie an die Wand nageln, verkaufen). Er geht auch auf ein Konzert von Blumfeld, trifft Distelmeyer in Latzhose, der ihm 10 Markt schenkt, als Horzon zu weinen beginnt. Und so weiter....


Alles wird zum Selbstläufer dann, wenn es nur als Witz gemeint war, und wenn er wirklich Kohle machen will, fliegt er auf die Schnauze. Das ist sympathisch. Eine Art Jean-Baptiste Grenouille der Berliner Szene in einer Zeit, als man wirklich alles machen konnte, wenn es nur cool und gut und indie aussah und damit bald als Künstler und Mastermind der Szene galt. Manchmal zum laut lachen, manchmal lachhaft, mal öde und lang, mal stackatohafter Irrsinn.


Wer Berlin nach der Wende bis vor 5 Jahren verstehen will, sollte lesen!