Don Delillo: Der Engel Esmeralda, Kiepenheuer&Witsch, 246 Seiten

Aus einer durch und durch kommerzialisierten Kultur in den USA, wo auch Künstler auf die hochsubventionierte Kultur in unserem Land irritiert blicken, von dort kommen den immer gleichen Argumenten (Keine Kulturförderung = Nur noch Mediokres, Gefälliges und Banales) widersprechend, ganz und gar großartige Autoren, Musiker und Filmleute. Immer noch.

Einer der ganz Großen sicher Don Delillo, der mit einem Über-Roman wie „Unterwelt“ ein Panoptikum der amerikanischen Welt rückwärtsmarschierend schuf und dann doch angesichts der Monstosität der Ereignisse von 9/11 in seinem Roman „Falling Man“ total versagte -  sein einzig schlechtes, banales, mediokres Buch.

Kurzgeschichten werden von Lesern in Europa ja gern als Beifang eines Romans begriffen, als Fingerübungen. Dabei gibt es viele grandiose Short Story Only Autoren wie Alice Munro oder Raymond Carver, die die kurze Form nicht als eine Geringere gegenüber dem Roman begriffen und auch so nicht zu lesen waren. Delillo hat mit dieser Sammlung seine erste Kurzgeschichtensammlung überhaupt vorgelegt, chronologisch geordnet. Er eröffnet damit auch indirekt eine Möglichkeit zu sehen, wie er an seinen Romanen arbeitet: Motive aus den Kurzgeschichten, sogar einzelne Figuren tauchen auch hier auf. Motive wiederholen sich. Ob sie nun zuerst als Kurzgeschichte oder in den Romanen existierten, bleibt offen. Sein Stil, diese verdichtete Atmosphäre und die eigenartig zwischen weltfremd und doch denkbar hin und her mäandernden Dialoge - alles auch in seinen Erzählungen zu finden. Genau wie die manchmal nervig kryptischen oder allzu zerstückelten Dialog- und Handlungsteile.


Als ich versuchte nach dem Lesen die 9 Erzählungen nochmals im Kopf zusammenzubekommen erinnerte ich mich an 4 sofort. Gleich die erste Erzählung von einem Paar, das in der Karibik hängen bleibt und dann getrennt zurückfliegen muss, worauf hin der Mann mit einer anderen Gestrandeten anbandelt kaum, dass seine Frau abgeflogen ist. Gemeinsam einsam, die Schönheit der Chance und vereint im Schicksal - alles steckt in dieser Geschichte, die Delillo vielleicht auf einer Autorenreise in die Region geschrieben hat, fantasierend über was wäre wenn...


Es folgt eine Science Fiction Geschichte von Astronauten in einer Kampfkapsel mit Blick auf die Erde, wo der Dritte Weltkrieg tobt. Ray Bradburys Tätowierter Mann kommt in den Sinn. Auch hier die große Könnerschaft aus kleinsten Gedanken und Gesten eine Figur, ihre Sicht auf „die Welt“ - hier ganz wörtlich - und darin gespiegelt sich selbst offenzulegen.


Sozialkritisch und dabei gleich zu höheren Themen abhebend die Titelgeschichte vom „Engel Esmeralda“ um ein paar Nonnen und ein homeless kid, das erste ermordet wird und zur Heiligen wird. Elend, Tod und Transzendenz - die großen Themen der Literatur und dieses Autors in Reinform. Teile der Erzählung fanden auch in „Unterwelt“ Verwendung.


Selbstverständlich konnten nicht alle Erzählungen bewegen. Die geistigen und körperlichen Veränderungen einer in Griechenland von einem Erdbeben getroffenen Figur in „Die Akrobatin aus Elfenbein“ war so eine, mit der ich gar nichts anfangen konnte, weil die Meditation über die wackelnde Erde und das Leben vom Einsturz bedroht mir zu offensichtlich vorkam.

Grandios dann wieder „Baader-Meinhof“, die als bestechend kluge Analyse des berühmten Gerhard Richter Gemälde Ensembles beginnt und dann zu einer sehr persönlichen und bedrängenden Geschichte zwei einsamer New Yorker wird.

Schon mal hat Delillo sehr klug über ein Kunstwerk geschrieben und es in seine Erzählung eingebaut: In „Point Omega“, das mit als eine Meditation über eine Video Arbeit des Künstlers Douglas Gordon: „24 hour Psycho“ beginnt.


Die kürzeste Geschichte im Band, „Der Läufer“ ist die einzige wirklich Plot-getriebene im Band. Ein Jogger wird Zeuge einer Kindesentführung und den direkt folgenden Minuten. Wie er dann lügt, um einer anderen Zeugin die Angst vor dem unkontrollierbaren Leben  zu nehmen, ist so verdammt klug.


Ganz aktuell und irgendwo zwischen Wunschtraum und Groteske die Geschichte „Hammer und Sichel“, die ich als die delillohafteste empfand: Ein Gefängnis voller Finanzbetrüger und Steuerhinterzieher, die sich eine Kinder-Wirtschaftsnachrichten Sendung im Fernsehen ansehen, moderiert von zwei Töchtern des Erzählers. Hier tritt die Finanzkrise, Familienschicksal und die Auswirkungen einer aus dem Ruder gelaufenen Gier in einem kranken System zu Tage und es gelingt mit dem Gefängnis eine Metapher ähnlich wie in „Unterwelt“ mit dem Bau der Twin Towers - die 3 Jahre nach der Veröffentlichung des Romans fielen und ihre Symbolkraft im Roman, wie von einem Autor nicht besser auszudenken, damit erst voll entfalteten.


Delillo lesen, heißt über Gedanken zum Jetzt lesen - selbst wenn das Jetzt wie bei manchen der Erzählungen schon 30 Jahre zurückliegt. „Die Vergangenheit ist nie wirklich tot, nichtmal vergangen“, sagte Faulkner. Und Delillo folgt ihm darin.