Jennifer Egan: Der größere Teil der Welt, Schöffling 387 Seiten

Ich dachte Postmoderne und vor allem postmodernes Schreiben sei tot, wo wir doch längst in der Post-Postmoderne angekommen sein sollen. Dieses ganze Ich-lose Erzählen, multiperspektivische, Wahrheiten zerschmetternde, kaleidoskopartige Schreiben soll überholt sein. Und so kommt einem auch dieses Buch zunächst formal überholt vor, weil jedes Kapitel aus Sicht einer anderen Figur, mal in der 3. dann in der 1. Person, mal mit der Kahnschen „Du musst...“ Form, dann wieder ein „Eugenides-Virgin Suicides-Wir“ bis hin zu einem Power-Point Tagebuch, wo über 30 Seiten nur Graphiken uns das Denken und Leben eines Mädchens nahe bringen, dessen Bruder von Pausen in Songs besessen ist, dessen Vater der ehemalige Freund von einem Toten aus einem anderen Kapitel ist, der wiederum verliebt war in die Hauptfigur aus einem weiteren Kapitel.... usw..


Und doch ist dieser Roman anders. Er bedient sich keines hyperrealen Erzählen a la Pynchon, mit einer unüberschaubaren Zahl an Figuren, Orten, Zeiten, verrückten Verquickungen, von denen die Hälfte ohne nochmals aufgegriffen zu werden, keiner Erzählung an sich, sondern eher sich selbst dienen. Hier dagegen ist es ein großes, trotzdem überschaubares Figurenkabinett vorhanden, das auf vielfältige Weise und einem Zeitraum von 40 Jahren (bis in das Jahr 2021) fast schon gespenstisch gut zusammengeknüpft ist. Menschen begegnen sich, berühren sich, verändern einander und leben ihr Leben in ihrer nur eingebildeten Konsistenz. Von dieser lässt Egan nicht viel übrig, sobald sie die nächste Perspektive einer Figur einführt. Sie zeigt die Brüche und Lügen und eigenartigen Wendungen.


Ob ein Mädchen, das mal Schauspielerin war, dann zur PR genötigt einen Massenmörder rehabiltiert, die Tochter der PR Frau, die selbst später in der Musikbranche landet, der ExPunk, Ex Label Chef, Ex Ehemann, der viele Dinge in seinem Leben gemacht hat, ohne dass dies ihn besonders verändert hätte - Familie, Frauen, Krisen, Erfolg, Niederlagen - alles im Fluss, im Zentrum immer er. Oder der ehemalige Highschool Liebling und Charismatiker, der irgendwann im Hudson dreckigen Fisch fischt und ganz am Ende zu einer Berühmtheit wird, weil er „iPad“ Musik, so genannte Tatsch-Musik für Kleinkinder macht. Erfolg wird schon längst nicht mehr über Twitterfeeds, sondern bloße Bildschirmberührung von Kleinkindern entschieden. Nicht zu vergessen der depressive Mitbewohner, die Kleptomanin, der nette Onkel mit Eheproblemen.


Ein wilder Ritt von Anfang der 80er bis in die Zukunft Amerikas, das da ein paranoider Überwachungsstaat geworden ist, der zwar immer noch Wohlstand zulässt, aber das öffentliche Leben kontrolliert. Wobei das völlig nebensächlich ist, da es immer nur um die manchmal sehr verengte, aber immer nachvollziehbare Sicht der vielen Figuren geht, dieses Panoptikum aus Meinungen und Haltungen und Vorstellungen und Lebenswegen, die meist in der Bay Area von San Francisco, aber auch in New York und sogar Neapel spielen. Man beginnt in jedem folgenden Kapiteln zu warten, dass eine Figur aus einem der anderen Kapitel erwähnt wird oder sich die vergangenen Jahrzehnte widerspiegeln, ein Satz in dem man erfährt, wie die Figur vom Universum der 90er in die Nuller Jahre gelangt ist. Wo ist die Exfrau hingeraten, wie hat die Figur den Irrsinn überlebt oder wie konnte der abgehalfterte Typ zum Star werden?


Diese narrativen Fragen werden alle beantwortet - und doch bleibt man am Ende nicht einfach schön beruhigt zurück, weil es für die meisten ein gutes Ende nimmt. Es ist eine Mischung aus Beunruhigung und dem Gefühl, die eigene Lebenszeit, die Herkunft, die Irrungen der Jugend, das gesettelte Erwachsentun mit anderen Augen zu sehen nach der Lektüre. Weil die Berührungspunkte der Figuren so gekonnt gesetzt sind, dass jedes Kapitel auch für sich allein funktioniert, weil die Kontingenz und die narrativen Effets die die Figuren treiben so bestechend klar angelegt sind, lohnt es sich dieses Buch direkt ein zweites Mal zu lesen.


Ein tolles Buch, auf jeden Fall, ob all den Hype und die vielen Preise wert, also SO herausragend, das weiß ich nicht. Ist auch egal. Nächstes Jahr spricht keiner mehr von dem Buch, aber ich werde mich daran erinnern. Aber wer weiß....