Peter Schneider: Die Lieben meiner Mutter; kiepenheuer&witsch 296 Seiten

Seit 40 Jahren schreibt Schneider Bücher, die irgendwo zwischen Tagebuch, Fiktion und Lebensbericht wandeln. Er war in der Politik für die ESPEDE und 68 mit Rudi&Co unterwegs, ist wohl ein klassisches Nachkriegskind mit all den Blessuren und Idealen und bundesrepublikanischen Bewegtheiten. Daraus zog er bisher seine Themen.

In diesem schönen aus Briefen und Deutungen und eigenen Erinnerungen und Gesprächen zusammengenähten Buch geht es aber nicht um Politik oder junge Männer auf der Suche, sondern um seine Herkunft, genauer gesagt um das kurze Zusammenleben mit seiner Mutter, die schon 1948, als Scheider gerade acht Jahre alt war, verstarb und eine große, unerfüllte, viel Text produzierende Liebe mit einem Mann lebte, der nicht ihr Gatte und nicht Schneiders Vater war.


60 Jahre lang zog eine Kiste, erst mit dem Vater und dann mit dem Sohn, durch die Welt. Eine Kiste, die die Briefe der Mutter an den Vater und ihre Liebhaber und sogar die Briefe der Liebhaber an die Mutter enthielt. Einige Jahrzehnte wollte Schneider das Sütterlin nicht entziffern, sich aus Furcht, was er erfahren würde und aus Schuldgefühlen, wie wir am Ende erfahren. Er tat es aber schließlich mit Hilfe von Gisela Deus, die auch als Gesprächspartnerin über die z.T. für den Sohn erschütternden, verstörenden, empörenden und schmerzhaften in den Briefen formulierten Gedanken und Taten diente.


Es ist eine bittere, traurige, sehr deutsche Geschichte. Einer der letzten Sätze, die Schneider aus den Briefen seiner Mutter zitiert lautet: „Es ist ein Scheiß-Jahrhundert und für die Frauen Sklavenarbeit - nichts Anderes!“. Dies kondensiert das Leben von Schneiders Mutter wenige Wochen vor ihrem Tod. Sie hatte eine große Begabung zum Schreiben, ließ diese aber ausschließlich in leidenschaftliche, manchmal die Selbstachtung verleugnende, kluge und zugleich in Summe tragische Briefe an vor allem einen ihrer Liebhaber fließen. Andreas, ein Regisseur, der sowohl vor, wie im und auch nach dem Krieg Karriere machte (trotz NSDAP Mitgliedschaft) und ein betörendes Scheusal, eine zur menschlichen Nähe & Liebe unfähige Künstlerseele, vielleicht auch schlicht ein feiges, rücksichtsloses Arschloch gewesen sein dürfte.


Der größte Teil des Buch erzählt über diese verzehrende, unglückliche, aber der Zeit weit voraus offen geführte Liebe (Schneiders Vater wusste von Andreas, es war sein bester Freund!) und dann im Anschluss einige, kurze, aber ebenso erfolglose Versuche der Mutter sich in der Liebe zu anderen Männern zu verlieren. Eine Frau zu groß für diese enge, verklemmte, traditionelle Welt. Die Unerbittlichkeit, die Tiefe der Gefühle, die sich in den Briefen und den Deutungen durch den Sohn offenbaren, ist faszinierend. Ein Alpendrama von griechischen Ausmaß, eine unerwiderte Leidenschaft, die am Ende alles Fühlen tötet. In ihren Briefen aber (vielleicht gerade in dieser Distanz und Selbstbezogenheit des Schreibens) war sie zu einer kaum zu ertragenden, überbordenden, ranscheißerischen Liebe im Werther-Ton fähig. Ihr Ehemann bekommt aufmunternde Worte, netten Dank und Berichte über ihr seelisches Auf und Ab. Der Sohn kann sich nicht erklären, warum sein Vater dies ertrug. Genauso wenig, wie seine Mutter die Liebe zu diesem Mann ertrug. Diese Liebe verlor sich dann im Briefverkehr eines Krieg führenden und dann kriegszerstörten Deutschlands, wurde zur fixen Idee und Folter, irgendwann zu Lüge und Feigheit.


Neben dieser Tragödie, erzählt Schneider parallel wie er und seine ältere Schwester einem Nachbarsjungen verfielen, der sie mithilfe von Versprechungen und Drohungen manipulierte wie ein geschickter Sektenführer und dem es gelang, dass Schneider als seine Mutter bereits in Depressionen versank, im Bann dieses Jungen stand und sich ihrer Fürsoge und Nähe entzogen hatte - ohne die Gelegenheit sich später wieder anzunähern. Dieses Schuldgefühl schein ihn bis heute zu beschäftigen.


Schneider macht auch ein paar knappe Andeutungen, was seine Kindheit aus ihm gemacht hat, zu welcher Art Liebe & Beziehung er selbst fähig war. Ganz ohne küchenpsychologisches Geraune oder ermüdende Selbstanalyse.

Ein kraftvolles, sehr persönliches, berührendes Buch. Es erzählt durch diese eine wortgewaltige Frau die Wirren und Wehen des Jahrhunderts und vom Verlust, den ein Kind auch sieben Jahrzehnte später antreiben kann, ein Buch zu schreiben, um herauszufinden, wieso man ist, was man ist, ob man seiner Herkunft entkommen kann.


CC