W. Somerset Maugham: Die Macht der Umstände, Diogenes 233 Seiten

Ja die Klassiker der Erzählung... Stehen im Regal, Tschechov und Maugham und Munro, und es braucht den Moment, sie aufzuschlagen. Diesen Erzählungsmoment im Gegensatz zum Romanmoment.

Und dann doch: Begeisterung, Freude über diese Sprache, die fernen Geschichten in Borneo und Malaysia und auch mal in London mit Briten direkt aus der Kolonie kommend. Und bei aller Fremdheit der Umgebung und den fast klischeehaften Bildern von Männern in Shorts und mit Tropenhelm, echte Higgins Typen wie in „Magnum“, die den Wilden, den Eingeborenen Straßen bauen und sie regieren - bei all dem geht es doch um das Zwischenmenschliche. Und um die Anpassung an die Umgebung. Und um die Frage, wer ist man, weil man aus einer Kultur kommt und wer kann man werden? Maughams Kurzgeschichten wirken nicht wie die modernen, kargen, schnörkellosen Kurzgeschichten heutiger Autoren, die sich oft anfühlen wie ein kahler Raum mit kaltem schwarzen Ledersofa in einer Architektenwohnung. Maugham schreibt dicht und ausführlich und dabei auch nicht verschnörkelt, sondern klar und geradeaus.


Es sind durchweg mehr oder minder tragische Liebesgeschichten, die erzählt werden, meist von einer dritten Person, die am Rande involviert ist. Ob auf einem Inselarchipel, der Inselraufbold und Saufbold die Schwester vom Pfaffen zu seinem Glück findet, nachdem er sein Glück bei den Inselschönheiten gesucht hatte. Oder der junge Stellvertreter seiner Majestät an irgendeinen Flecken irgendwo im Dschungel, der sich 10 Jahre mit einer Einheimischen vergnügte, ihr drei Kinder machte und dann eine Engländerin heiratete - die das irgendwann rausbekommt und es zu mehr als einem Clash of Civilizations kommt.

Oder das seltsame und schrecklich unglückliche Pflanzerpaar auch im Dschungel, das notgedrungen einen kränkelnden englischen Gast aufnimmt, der dann als Kummerkasten für die Frau wird, die ihm die schreckliche Geschichte erzählt, die sie und ihren Mann zu Gefangenen in ihrem eigenen Leben werden ließ.

Oder die Geschichte von der wilden und glücklichen und einzigartigen Liebe in London, die (diesmal in die andere Richtung) durch die zufällige Begegnung mit einem jungen Briten aus den Kolonien in die Brüche geht - inklusive gesellschaftlicher Verwerfungen weil sie älter ist als er und Toten und vielen gebrochenen Herzen.


Manchmal ist es schön und befremdlich zugleich, dieses britische Kastensystem mit seinen Clubs und Herrenabenden und den Bridge Runden zu erleben, diese Selbstverständlichkeit, mit der sie sich selbst als Leitkultur begreifen - egal in welcher Umgebung. Die angeheirateten Frauen, natürlich ohne eigene Karriere, dieses Weltreich mit seinen Aristokraten und seiner Arroganz, mit seinen Vorurteilen und selbstverständlichen Abneigungen, Regeln und Verhaltenskodizes, die „mit Anstand und Würde“ als Richtschnur immer wissen, was sie zu tun haben egal wo auf der Welt. Und doch sind es die Geschichte von Einzelnen, die ausbrechen aus dem Ganzen prefab Leben, den Klassenbiographien und Plänen des Vaters für den Sohn, der ihn schon als Abgeordneten sieht. Da ist zum Beispiel der junge Sohn einer jüdischen Familie, die in Hyper-Anpassung englischer als die Engländer zu sein versucht, ihren Namen ändert, alles tut und macht, was ein Engländer dieser Klasse macht (Fuchsjagd, Tennis, Polo, Club) - und von ihrem Sohn, der in München Klavier lernen will in ihrem Selbstbild bedroht wird. Eine der schönsten Geschichten dieses Bandes, weil die Figuren und Zusammenhänge sogar über ein ganzes Jahrhundert reichen und die allmählich sich ankündigenden Veränderungen bereits spürbar sind - 20 Jahre später kommt der 2. Weltkrieg und das Empire fällt auseinander wie diese Familie.


Ein wunderbar zu lesendes, in seiner Geradlinigkeit trotz der affektierten Charaktere mit ihrer ganzen Englishness, lehrreiches und sprachlich großartiges Büchlein. Ein echter Klassiker eben.