Alan Pauls: Die Vergangenheit  Klett-Cotta 2009, 559 Seiten

Alte Liebe rostet nicht - sagt man. Nach der Lektüre dieses Werkes hat man eher das Gefühl, dass alte Liebe nicht einem widerstandsfähigen Metall ähnelt, sondern einem Herpesvirus, der im Körper schlummert, jederzeit durch einen Impuls, ein Foto, eine Berührung, ein Lied, ein Ort, eine Geste, ein Blick ausbrechen kann. Im System der ehemals Liebenden schlummert dieses „Ding“ und ist unmerklich integraler Bestandteil aller körperlichen aber auch geistigen Prozesse geworden, die man leichtfertig „die Zeit danach“ nennt - obwohl Zeit nie endet, nur beginnt - jedenfalls für Liebende.


Über die Ehe von Rímini und Sofia erfahren wir auf den ersten 100 Seiten in Rückblicken. Eine große Liebe zwei junger Idealisten, ein wenig 19. Jahrhundert, schwärmerisch, so selbstverliebt wie selbstsicher - dann aber doch einem häufigen Fehler zum Opfer gefallen: zu jung zu früh geheiratet. Rímini will gehen, Sofia findet‘s ok, scheint von Beginn sogar die ordnende Hand in all dem Gefühlswirrwarr. Nach einer mehr oder minder gesitteten Trennung und Phase des Rückzugs, verliert sich Rímini sehr mannsmäßig in Drogen, um sich kaputt zu arbeiten; das Koks hilft auch seinem zunächst autopoetischen Sexleben auf die Sprünge, das wieder ein zweisames wird, als er Vera trifft, die krankhaft eifersüchtig ist und daran zugrunde gehen wird - während es für Rímini der Beginn einer sich über das Buch entfaltenden Selbstaufgabe und der Verwandlung vom romantischen Liebenden zum seelenlosen Sexzombie ist.


Die neue Freundin Vera ist u.a. deshalb pathologisch eifersüchtig, weil sie weiß, dass Sofia, die Exfrau, Rímini noch lang nicht aus ihrem Leben entlassen hat und sich darum bemüht mit Anrufen, Kontakten zum Vater, Briefchen, Karten und unerwarteten Erscheinen die Erinnerung lebendig und die Wunden offen zu halten. Aber Vera ist ein Hardcore-Eifersuchtstier auch deshalb, weil sie wie einige Figuren in diesem streckenweise großartigen Buch eine Art „Thesenfigur“ verkörpert. Sie ist ein psychologisch passender Spielstein in dem misslingenden Loslösungsprozesses von Rimini und Sofia und hat darüber hinaus keine Bedeutung.


In wunderbaren Bildern und Details beginnt der Roman wie eine archäologische Ausgrabung Scherben, winzig Teile von Momenten, Berührungen, Blicken, Wortfetzen und Ereignissen zusammenzusetzen, meditiert seitenlang über einen einzigen Moment, der ewig wurde für die beiden Liebenden, zu einem Stein ihres Fundaments - welches aus 1000en solcher Teile besteht und zu einem Ganzen wurde - das trotzdem zerfällt zur Ruine und zu einem verlassenen Ort einer in Vergessenheit geratenden Kultur wird.

Eine unvorstellbare Tatsache das, über die erneut vom Erzähler philosophiert wird. So wird das Unbegreifliche ein wenig sichtbar gemacht: wie aus der intensiven Liebe zweier Menschen das ganze Leben nach dieser Liebe in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nichtmal vergangen - hat ein berühmter Dichter gesagt. Diese Geschichte ist ein Beleg dafür.


Grandios beginnt der Roman mit so schönen Sätzen wie: „Die Trennung war nicht das Jenseits der Liebe, sie war ihre Grenze, ihr Gipfel, die Innenseite der Außenhülle; wenn sie sich vollzog...war sie es, die der Liebe erlaubte, gut zu sterben.“ oder so klugen Erkenntnissen wie, „ So sehr sie auch mit Bedeutung aufgeladen sein mögen, sie (Möbel) sind brauchbar, und diese Nützlichkeit ermöglicht ihnen ein Weiterleben...unter veränderten Bedingungen und in neuen Zusammenhängen. Aber Fotografien...verlieren alles, wenn der Kontext, der ihnen Sinn verlieh, sich auflöst.“

Doch diese Prägnanz und Schönheit und Dichte verliert sich nach 200 Seiten immer wieder in handlungsloser Psychologisierung und Nebensträngen des Reflektierens. Die Erzählperspektive schwankt zwischen einer auktorialen und personalen, um manchmal in einer Art neutraler Perspektive aufzugehen. Es finden Zeitsprünge statt, plötzlich ist Vera schwanger, dann kommt das Kind weg, dann ist Vera tot. Man gewinnt den Eindruck dass der immer passiver und gefügiger werdende Rímini ein Paradebeispiel für eine narzistische Persönlichkeit herhält, und (der Autor) einer Art Haremsglauben anhängt, in dem alle Exfrauen eines Mannes diesen immer weiterlieben MÜSSEN. So wird der einzige Weg zu sich selbst oder zur erneuten Zweisamkeit, um nicht von all den Vergangenheiten erdrückt zu werden, sich selbst oder den anderen auszulöschen. Und so verliert der Übersetzer Rimini allmählich all seine (erlernten) Sprachen und die neuen Freundinnen bringen sich um oder werden von der Ex vertrieben. Das klingt sehr strukturalistisch, aber liest sich streckenweise plausibel und schön.


Die Sexszenen im Buch werden jedoch irgendwann immer bizarrer, sind am Ende einfach nur noch grotesk, wenn Rimini nach einem Totalverfall auf körperlich-seelischer Ebene, nachdem ihn seine zweite Frau verlassen hat (weil Sofia ihr gemeinsames Kind entführt hatte), zum Tennistrainer wird und eine Weile eine Ü-50 rich-bitch vögelt mit allem, was Pornoklischees und Alherrenfantasien so hergeben, inklusive der voyeuristischen Haushaltshilfe, die es sich dabei gern selbst macht.

Alle Szenen, in denen nicht über Sex nachgedacht, auf ihn gewartete oder er praktiziert wird, scheinen irgendwann nur als kurze Pausen bis zum nächsten Geschlechtsakt zu dienen, ohne dass man wüsste, wohin das die Figuren, respektive die Geschichte bringen soll. Die Tennislehrer/Loveboy Episode gipfelt schließlich darin, dass Rímini das Bild mit dem Namen „Das trügerische Loch“ eines berühmten Malers mit Namen Riltse (!) entwendet, den Rimini und Sofia in ihrer Jugend vergötterten, der so etwas wie ihr gemeinsamer Kult ist. Wortwörtlich das Loch in dem Bild mit seinem Schwanz füllend, wird Rímini zu Haus von der Polizei verhaftet. An dieser Stelle des Romans waren die Krise der Figur und Krise des Lesers identisch - och neeee!, riefen wir.


Im dritten Teil des Buchs verliert die Geschichte viel Kraft an Geschwätzigkeit und dieses Sextrallala. Die Klischees und Nebenstränge nehmen Überhand, die eigentliche Frage, warum Sofia nicht von Rimini und er offenbar nicht von ihr loskommt, wird nicht weiterverfolgt. Stattdessen gibt es einen 60-seitigen Exkurs über den fiktiven Maler Riltse und sein fiktives Lochbild und die fiktive Geschichte dieses Bildes (die auch wieder viel mit Sex und Hörigkeit zu tun hat). Die Sexszenen erheben am Ende fast allesamt Anspruch auf den Preis für die schlechteste Literarische Sexbeschreibung, die jedes Jahr vom „Literary Review“ verliehen wird. Erst wenn auch noch der Handjob Riminis für seinen Schwiegervater überstanden ist und ein seitenlanger Exkurs über die Erinnerung an eine ehemalige Grundschullehrerin, kommt der Roman auf seine eigentliche Handlung zurück: das Überliebespaar Sofia und Rimini.


Dieser letzte Teil ist leider nicht mehr so kraftvoll und erhellend wie der Beginn und bietet keine befriedigende oder auch nur schlüssige Auflösung - und selbst wenn es zu diesem zu Thesen neigenden Roman gepasst hätte, dass er kein passendes Ende hat, weil es für die große Liebe ein solches nicht geben kann, wirkt das alles zu gewollt: Rimini wird nach seiner Rückkehr zu Sofia (nach 7 Jahren! verflixt) zu einem Anschauungsobjekt in ihrer Frauengruppe „Frauen, die zu sehr lieben“. Sie zeigt ihn herum wie eine seltene Spezies und er lässt es mit sich machen. Und zu Haus bei ihr tut er, was er direkt nach der Trennung hätte tun müssen (und was man offenbar als Grund für die nicht enden wollende Beziehung der beiden verstehen soll): er sortiert und katalogisiert und analysiert die gemeinsamen Fotos und damit die Vergangenheit bzw. die Erinnerung daran. Bis ihm schließlich mit einem Mal alle Erinnerungen an Zusammenhänge endgültig verloren gehen. Nur er und sie bleiben übrig - der Rest der Welt ist gesichtslose, namenlose Staffage. Rimini wurde von Sofia zum autistischen, hilflosen, dressierten Männchen zugrundegeliebt, bis er begriffen hat, dass er außer ihr nichts im Leben erreicht hat, er seiner Vergangenheit, die auch sein zukünftiges Schicksal ist, nicht entkommen wird.

Der Roman endet schließlich - wo sonst - in Sex-Splatter wie in dem Film „Teeth“, in dem eine Vagina Zähne hat und....