Michael Ondaatje: Divisadero, Hanser 280 Seiten

Man sagt immer, Ondaatje der Autor von "Der Englische Patient". Sicher ist das sein berühmtestes Buch. Aber ohne snobistisch sein zu wollen: Seine zwei Bücher davor, "Coming Through Slaughter", ein Roman über einen der ersten Jazzmusiker in New Orleans und "The Collected Works of Billy The Kid", eine Art Romangedicht über Leben und Sterben des Revolverhelden, sind schöner, noch dichter und poetischer und man findet auf ein Mindestmaß verknappte Absätze, die seinen Stil so prägen.


Divisadero spielt wie sein letztes Buch "Anils Geist" (wie ich finde sein schwächstes) in der Gegenwart. Ondaatje verschränkt zwei scheinbar unabhängige Erzählungen zu einem Roman. "Kubistisches Erzählen" nennt das der Autor. Er montiert in Dialogen, Beobachtungen der Figuren, wechselnden Erzählperspektiven die Geschichte einer jungen Frau, die von zu Haus wegläuft und von einem fiktiven Dichter und seiner Umgebung in Frankreich Anfang des 20. Jahrhunderts. Natürlich gibt es Berührungspunkte der Figuren über Zeit und Kontinente hinweg von denen sie nicht wissen können - nur wir als Leser und Reisender durch die Jahrhunderte wissen das.


Ondaatjes Geschichten sind auf eine seltsame Art zeitlos, da reiten Leute über Felder, bestellen Farmen, wohnen in einfachen Hütten, kämpfen sich durch Blizzards. Es könnte im Wilden Westen sein, bis man erfährt: eine Farm im 21. Jahrhundert. Das schafft Ondaatje indem er alles zeitliche weglässt, sich auf die Beschreibung von Natur und Personen beschränkt. Dann geschieht etwas Schreckliches, die Familie fällt auseinander und dann werden wir mit den Figuren in die Welt geschleudert: Las Vegas, Spielhöllen, San Francisco. Und dann wieder eine erstaunliche Ort und Zeitlosigkeit, im zweiten Teil des Buches.

In einer großartigen Verdichtung gelingt es, 100 Jahre und 3 Generationen zu erzählen, dass man meint, all diese Figuren lebten noch immer in dem gleichen Haus, könnten an der langen Tafel im Garten Platz nehmen.


Manchmal vielleicht ein wenig zu verkünstlet,  was schnell selbstverliebt wirkt bei einen Autor, aber ansonsten ist Ondaatje in der Lage, in zwei Sätzen die Beziehungen einer Figur zu ihrer Familie, ja ihrem Leben klar zu machen. Der Autor schickt uns durch seine Geschichte, in der wenig wirklich passiert. Ein Drehbuchautor würde bemängeln, dass sie mehr oder minder „plotlos“ ist. Aber was „Spannung“ fehlt, wird durch Klarheit, Dichte  und exakte Beobachtung spannend. Ein schönes Buch, wenn auch nicht mehr so stark wie die Älteren, aber lesenswerter als 80% des publizierten Mainstream Literaturzeugs.