Donna Tartt: Der Distelfink, Goldmann, 1022 Seiten

Urlaubslektüre, dick, packend, flüssig geschrieben. Die Geschichte ist plotmässig schnell erzählt: Junge gerät in Bombenanschlag auf New Yorker Museum, sterbendes Mitopfer bittet ihn ein Bild zu entwenden, das tut er - und wird den Rest seines Lebens an den Folgen des Attentats und des Diebstahls kauen. Er hat dort seine Mutter verloren, er findet die Liebe seines Lebens, mit der er aber nie zusammenkommt, er versinkt in Drogen und Suchen, wird kurzzeitig vom Vater wieder aufgenommen, weil der an das vermeintliche Geld will, er durchleidet die Pubertät und wird erwachsen, wird aber auch Betrüger. Das Bild ist immer bei ihm, wie der Schatz des Gollum bei Herr der Ringe eine Art Fetisch und Lebensaufgabe in einem.  Er findet Ersatzväter und Ersatzfamilie, es wird auch viel gestorben und gelogen, er kommt rum und droht am Ende sein Leben, sozial und familiär und ganz physisch, zu verlieren, wegen des Bildes. Ein Bildungsroman, ein Coming of Age und am Ende ein Thriller. Alles gleichzeitig und mal geschichtet.


Man muss auf jeden Fall loben, dass trotz des Stoizismus der Figur, seines mediokren Gefühlshaushalts und seiner manchmal seltsam sonnambul getroffenen Entscheidungen, das dicke Buch immer gut vorankommt, auch wenn gelegentliche Exkurse und sich totlaufende Nebenstränge (wie im Leben auch) nerven. Aber wir lernen über die Upper-Class, über Antiquitäten, über Las Vegas und das Leben am Abgrund, über Immigration (innere und echte) wir sehen Traumata bei der Arbeit in verschiedenen Menschen zu, wir sehen die Suche eines jungen Mannes nach sich und einem Leben, an das er glauben kann. Er erzählt die Geschichte auch als Ich-Erzähler in Rückblenden.


Der Fink spielt irgendwann gar nicht mehr so eine Rolle, wird wie im Leben von Theo eher eine Leerstelle, die alles umkreist, die ihm aber auch wie ein Anker Halt gibt, wie ein geheimes Tattoo, das an die Zeit erinnert, als er glücklich war - oder einfach ein anderer Mensch. Warum Menschen Dinge tun, die sie unzweifelhaft als falsch erkennen und die, wenn sie auffliegen, ihr ganzes Lebenskonstrukt ins Wanken bringen müssen - diese Frage treibt Tartt um. Der Thrillerteil am Ende ist dabei seltsamerweise weniger spannend, als beispielsweise die Frage, ob er wirklich diese komische Frau heiraten wird, die Schwester seines besten Freundes, bei denen er einen Teil seiner Waisenzeit verbracht hat. Oder spannend ist auch, warum die beiden eigentlich Großverliebten und gemeinsam im Attentat damals zueinander gefundenen, danach nie mehr zusammenkommen wollen. Der ukrainische Drifter und Freund Boris, vaterlos und wild, der zum Kriminellen wird, ist sympathisch und facettenreich gezeichnet, aber als Schlüssel der Auflösung der Saga am Ende doch zu platt. Wie überhaupt der Ausgang der 900 Seiten Lektüre am Ende nicht mehr die Sogkraft entwickelt, wie phasenweise davor. Irgendwie will man das Bild jetzt endlich mal sehen, will, dass die Sache endet, will dass Theo, die komisch verkorkste Type endlich die richtigen Entscheidungen trifft und glücklich wird und sich nicht nur traut, allerlei Mist zu machen, sondern das Richtige zu tun. Aber den Gefallen tut uns Tart nicht, zum Glück wahrscheinlich. Denn das Ende des Buchs ist sehr nah am Leben - kontingent, storylos und voller Fragen. Ein angeketteter Vogel, wie wir an unser Schicksal gekettet. Viele Motive aus der Kunst, die das Leben von Theo auch Jahrhunderte später noch treffen. 1000 Seiten waren das, ein Sommer und lang nicht mehr so lektüreversunken verbracht.