Dirk von Gehlen: Eine neue Version ist verfügbar - Wie die Digitalisierung Kunst und Kultur verändert; metrolit, 143 S.

Eine Streitschrift könnte dieses Buch sein, wenn es über die schöne, aber am Ende doch etwas dünne Idee der „Verflüssigung“ der Kultur hinauskäme, die These nämlich, dass durch Netz und Digitalisierung die alten Gesetzmäßigkeiten der Verfügbarkeit, des Konsum oder der Verbreitung von Kultur sich auflösen und die Kulturprodukte in Bewegung kommen.


Mit Verflüssigung meint von Gehlen außerdem, dass die Autorenschaft selbst in Bewegung gekommen ist, weil die früher bloß Rezipienten nun in die Erstellung der Werke mit einbezogen werden können. Das klingt für einige Bereiche machbar z.B. bei der Finanzierung eines Films, oder wenn ein Autor eine Fassung eines Drehbuchs in der Crowd zur Diskussion stellt und so Feedback und Anhänger, ja vielleicht sogar weitere Verbreitung erfährt. Aber bei den meisten Kulturprodukten funktioniert die Verflüssigung in Form von Teilhabe und unbeschränkter Verfügbarkeit nicht, weil die Werke entweder vom Moment (Theater, Opernaufführungen, Konzerte, Happenings, Performance) leben, oder an einem bestimmten Ort (Street Art, der öffentliche, analoge Raum, eine Museumswand, ein Kino) existieren und im Netz schlicht etwas anderes sind: Nämlich nur ein Foto von Streetart, oder ein komprimierte mp3 Datei einer Orchesteraufnahme oder nur das Foto eines Gemäldes oder der Rip eines Films, nicht der Film im Kino selbst. Ein Werk mag in anderer Form, in anderem Medium ebenfalls existieren, aber es ist eben nicht mehr das Werk, sondern ein anderes, flüssig oder nicht.


BEIPACKZETTEL VERÄNDERT ALLES

Von Gehlen nennt seine Idee der Offenlegung des künstlerischen Prozesses, also der Metadaten eines Kunstwerks, den „Beipackzettel“. Allerdings gibt es bei Medikamenten durch die Beipackzettel auch den so genannten „Nocebo-Effekt“. Also jemand bekommt negative Symptome, weil er davon im Beipackzettel gelesen hat, obwohl er nur ein TicTac im Versuch geschluckt hat. Daher meine Gegenthese: Der Nocebo Effekt durch die totale Offenlegung des künstlerischen Prozesses ist viel stärker, als der Gewinn, den ein Werk dadurch erfahren könnte. Durch die Offenlegung und Transparenz und das wilde Mitmachen, geht als Nocebo Effekt der Reiz etwas zu entdecken verloren - und noch viel mehr: Wie soll ein Rezipient von einem Werk überwältigt werden, sich ärgern, freuen, sich einlassen, sich fragen stellen wenn er alles darüber weiß und der Prozess das Werk in Einzelinformationen fragmentiert? Das Buch selbst ist eben auch Selbstversuch mit Crowdfinanzierung und Teilhabe und creative commons Lizens, also auch geglückt. Aber es ist ein Sachbuch, kein Kunstwerk.


Von Gehlen lässt offen, was für ihn ein Kulturprodukt in digitalen Zeiten überhaupt ist. Digitales Schreiben bedeutet für ihn jedenfalls Austausch, Debatte und Testversionen, um die Wirkung zu überprüfen. Das ist jedoch nichts neues, weil die allermeisten Autoren schon immer ihre „ersten Leser“ hatten, die Kapitel oder ein ganzes Buch zu lesen bekommen und bewerten sollten. Andere schreiben für sich und kommen zu tollen Ergebnissen. Zugleich gibt es viele Künstler, die so nicht arbeiten wollen oder können. Ob die nur unmodern oder bald vom Markt weg sind?

Auch wenn von Gehlen sehr sympathisch eher Fragen stellt, man ihn nicht als Propheten einer Revolution lesen kann, eher als jemand, der eine Idee durchspielt und schaut, was passiert - in seinem Buch kommen trotzdem auch immer wieder die Apologeten und Propheten der totalen Verflüssigung und digitalen Umwälzung zu Wort: Alle Bücher werden digital sein, alle Musikträger digital ersetzt usw. Bibliotheken, Museen, Plattenfirmen, Verlage - bald alles auf dem Müll der analogen Zeit. Da schüttel ich doch den Kopf und fragt mich: Hab ich da was nicht kapiert, ich scheinbar alter, offenbar konservativer, vielleicht viel zu analoger Sack?

So bleibt am Ende vom Buchtitel „Wie die Digitalisierung Kunst und Kultur verändert“ nicht viel übrig, weil es im Buch um das Sachbuch selbst als Experiment und nur peripher um Kunst und Kultur, dafür vor allem um Journalismus und auch Politik geht, anhand derer der Autor seine Thesen durchspielt. Von Theater, Film, Performance, Malerei, Tanz im digitalen Zeitalter liest man gar nichts. Ein Buch, das als kollaboratives Gemeinschaftsprojekt geschrieben wurde, wird eingehend erläutert. Eins von - Moment - ca 25.000 Titeln in Erstauflage, nur in der Belletristik.



SCHAFFENSPROZESS DER EIGENTLICHE PROZESS?

Und dann war da noch die Frage: Warum glaubt von Gehlen, dass sich wirklich Leute für den Schaffensprozess eines Werks während seiner Erschaffung interessieren? Ich denke, die allermeisten, wollen eher das Geheimnis der Schöpfung bewahren - um es mal pathetisch zu sagen. Warum sollte ich wissen wollen, was der Maler dachte, als er rote Farbe anmischte oder der Schauspieler, als er entschied, diese Passage so zu sprechen? Warum SOLLTE den Film, Literatur, Musik zu einem Gemeinschaftsprojekt werden, wenn es einen gibt, der es tun möchte und kann - nämlich der Autor, Maler, Drehbuchschreiber, Regisseur, Tänzer…. Und wo soll der Gewinn für einen Künstler sein, sich von der Crowd reinquatschen zu lassen und darauf zu hoffen, am Ende mehr zu haben als mediokren Konsensmist, statt kantige Kunst. Auf jeden Fall nichts, das seiner Idee entsprungen ist - Antrieb für so ziemlich jeden Kreativen, dem ich begegnet bin, auch wenn sie wie beim Film später als Team arbeiten.


Und warum sollten Leute ihre Arbeitsweise, Denkweise bei der Erstellung eines Werks offenlegen, wenn ihnen das viel Arbeit macht und Zeit kostet, die sie lieber auf die Erstellung des Werks verwenden.

Von Gehlen denkt auch die Kunst wie Software in Versionen. Bei Onlinejournalismus, mag das gerade noch ok sein, dass man also Artikel überarbeitet, wenn es Neues zu berichten gibt (aber werden die vom Publikum dann auch  neu gelesen? Nein.). Doch bei einem Song, bei einem Buch, bei einem Foto, einem Film? Das Werk ist doch irgendwann fertig und muss es auch sein. Die Directors Cuts oder Urfassungen gab es auch, aber es geht auch da ja nicht um permanente Veränderung, sondern um eine alternative Version, wie von einem Mann oder einer Frau (dem Director) gedacht. Warum also sollte ein Filmemacher einen Film immer weiter verändern, statt einfach einen neuen zu drehen? Warum sollte ein Autor nicht ein neues Buch, ein Maler nicht ein neues Bild malen, anstatt auf Anregung der Crowd oder weil die Welt sich wandelt, an den alten Sachen rummachen?

Wer künstlerisch arbeitet, interessiert sich für Dinge, aber nicht immer die gleichen. Mit etwas fertig werden, zu spüren, dass eine Geschichte funktioniert und gut ist, dass sind Erfolge für einen Künstler - ganz unabhängig von Bezahlung und Zuspruch, die das verstärken und bestätigen können, aber nicht ersetzen.


Für mich eine schöne Idee mit der Verflüssigung. Als Methode für bestimmte Werke vielleicht sogar etwas neues und besonderes und funktionierendes - nicht aber für die Mehrheit der Kunst, die ihren Anspruch und ihre Arbeitsweise ja nicht grundlegend ändert, weil sich die Vertriebswege ändern oder man auch allein mehr Menschen erreichen kann digital. Der Maler malt, der Autor schreibt, der Regisseur dirigiert und der Geiger geigt. Auch ohne Internet, Crowd, Newsfeed und Feedback.