Thomas Hürlimann: Fräulein Stark, Amman 2001, 191 Seiten

Nomina ante res

Die Bücherarche legt für ein Jahr mit dem Klosterschüler in spe, dem Neffen des Stiftsbiblithekars in St. Gallen, ab. Der „Nepos“, wie ihn sein Onkel nennt, ist zuständig dafür, dass die Besucher der weltberühmten Bibliothek den „Geigenholzboden“ des Lesesaals nicht verkratzen und händigt ihnen deshalb tagein, tagaus Filzpantoffeln aus. Dabei lugt er den Damen, die damals noch alle Röcke tragen, gern mal unter dieselben, wird erwischt - und kann nicht aufhören. Wie es sich für ein kirchlich-geistiges Haus gehört, gibt es auch eine Haushälterin. Das ist Fräulein Stark, eine Analphabetin aus dem Appenzell. Sie hält den jungen Mann für einen typischen Katz, weshalb man ihn im Auge behalten müsse, insbesondere nach dem Vorfall mit dem Handspiegel.


Fast ein „Name der Rose“ Setting in der Jetztzeit, doch da wie hier scheint die Zeit stehen geblieben in der Klosterbibliothek, all das Wissen der Menschheit ist über Jahrhunderte zur unüberschaubaren Massen angewachsen, wuchert in alle Richtungen und kein Mensch lebt lang genug, alles zu lesen, was lesenswert wäre. Dazu passt das Zitat von Augustinus: „Und sollte der letzte Tag dich nicht als Sieger finden, findet er dich wenigstens als einen, der gekämpft hat.“


Der dicke, genussfreudige, lateinische Zitate donnernde, allwissende und gelehrte Onkel und die knallharte, einfache, hochmoralische Haushälterin sind die Ersatzeltern des jungen Mannes in diesem Jahr, der zugleich zwei Dingen auf den Grund geht: der Herkunft seiner Familie, die als Juden von der Ebene im Osten kommend in den Tälern der Schweiz landeten, christianisiert wurden und doch, wie es im Buch heißt „Katzen“ geblieben sind - der Familienname von damals. Katzennase und der Katzenschwanz, wie es die Stark nennt, sind dann auch das zweite Forschungsgebiet des jungen Katz: warum riechen die Beine der Mädchen so im Sommer und ganz anders im Winter, warum kann er den Blick unter die Textilglocken nicht verhindern und steckt nachts seinen Katzenschwanz in Socken, um sich zu erleichtern, wo er doch frommer Klosterschüler werden soll?


Ein sexuell-geistiges Coming of Age in der Schweiz der 60er Jahre wird hier erzählt. Die Novelle spielt in einem Sommer in der Stiftsbibliothek. Außer den skurrilen Altherren in der Kneipe, einer kindergelähmten hübschen Kellnerin und den meist sprachlos bleibenden Hilfsbibliothekaren, die ihr Leben an die nie abzuschließende Erstellung eines Bibliothek Registers verschwenden, findet alle Handlung, alles Sprechen zwischen Frl. Stark, dem Onkel und seinem Neffen statt.


Es gibt keine Gegenwart, nur Vergangenheit, sagt Augustinus. Und dieses Buch will es beweisen. Und der Onkel will es seinem Neffen beweisen. Man kommt immer irgendwo her: aus einem Land, einem Moment, einer Familie - das ist, was einem zu Jemandem und nicht Irgendwem macht. Das Jetzt und Hier ist nur ein Moment des Übergangs - in die Vergangenheit.

Außerdem: Nomina ante res - Die Wörter zuerst; Am Anfang war das Wort. Das ist das Motto des Onkels, der die gigantische Bibliothek mit all den uralten Werken, den Gängen des Klosters, die wie Gedärme die Vergangenheit verbergen, als ein Schiff über das Meer der Zeit steuert. Mit auf Deck sein Neffe, Fräulein Stark und die alten Männer am Portal, sowie die auf ihre Remingtons einschlagenden Hilfsbibliothekare. Ein Leben jenseits der Mauern ist möglich, aber sinnlos, möchte man in Anlehnung an Loriots Mops-Philosophie sagen.


Am Anfang war das Wort: und das belegt der Onkel an Worten wie „Astronaut“ oder „Luftschiff“, die es schon gab, bevor es die Sache selbst gab, wie es auch die Worte gab, bevor die Welt da war. Die Worte schaffen und bewahren die Welt. Dem jungen Klosterschüler aber erscheinen dennoch die Dinge selbst zu erst da zu sein: vor allem die fleischlichen Dinge: Fußfesseln, Waden, Knöchel und Spanne und die dazugehörigen Gerüche von Mädchen und Frauen, den Stoffen ihrer Kleider und den Sandälchen, Stiefeln, Schuhen. Ob man so zum Fußfetischist wird, indem das sexuelle Erwachen vor allem beim Anblick des Körpers vom Knie abwärts stattfindet wie beim jungen Katz? Diese Zukunft ist nicht überliefert in der schönen Geschichte. Aber dass aus dem zukünftigen Klosterschüler möglicherweise doch kein frommer Mann wird, ahnt man. Aber dafür einer, der all die Fäden, die uns als Charakter in die Vergangenheit führen, uns auch an sie binden, der sie sucht und spürt, um zu erfahren, wer er IST, das wird wohl aus dem Katz werden. Auch einer, der weiß, was Zeit bedeutet: sie vergeht. Und sie beruhigt beim Blick aus dem Fenster der Bibliothek, die Jahrhunderte in sich birgt, während draußen einfach der Sommer zum Herbst wird und die Damen andere Schuhe tragen.