George Orwell: 1984, Ullstein, 281 Seiten

Es wurde Zeit für dieses Buch. 30 Jahre ist das ominöse „Orwell Jahr“ her und so begann die Lektüre mit zwei Gedanken: Was ist noch da von der Schullektüre und dem Film mit Eurythmics Musik; und: Was kann das Buch heute noch erzählen? Gedanke 1 verlor sich nach 30 Seiten, weil mir der weitere Verlauf der Geschichte nicht wieder in den Sinn kam. Vom Film waren nur blasse Farben, der Song „Julia“ von der großartigen Annie Lennox und eine Folterszene mit einer Ratte in Erinnerung geblieben.

Gedanke zwei aber mäanderte bald in alle Richtungen: Edward Snowden, die NSA, das Internet, Nordkorea Straflager und Führerkult, die im Buch praktizierte Gehirnwäsche durch „Wirklichkeitskontrolle“ und die perfide Strategie die Zukunft zu ändern, indem man die Vergangenheit umschreibt. Letzteres etwas, das heute in Ungarn zu bewundern ist, wo Ausgrenzung von Minderheiten, Pressezensur und die Aushöhlung des Rechtsstaats durch eine Mischung aus Hypernationalismus und der ständigen Wiederholung einer neuen Interpretation der Vergangenheit zuwege gebracht wird.


In Orwells Buch ist die Auslöschung der Vergangenheit zum Wohl der Partei natürlich perfektioniert, aber man fragt sich doch, wie er das Buch heute schreiben würde, wo nicht nur Zeitungen und Bücher, sondern das Internet in seiner dezentralen, unüberschaubaren Form kontrolliert werden müsste. Andererseits: Was bliebe eigentlich, wenn all die Clouds und Facebookprofile, die digitalisierten Bücher und Lieder und Bilder gelöscht werden könnten - für immer und ganz und gar. Was würde aus unserer Vergangenheit? Ein Buch muss man vernichten, es neu zu schreiben erscheint unmöglich, weil ja die vorhandenen Ausgaben auch im Umlauf sind. Aber Informationen auf einer Webseite oder auch 1000 Webseiten zu ändern, mit einem Schlag, warum sollte das nicht technisch möglich sein?


Ansonsten: Ein manchmal mühsam zu lesendes Buch, irgendwo zwischen deprimierender Beschreibung eines totalen Totalitarismus, ein Pamphlet und eine hölzerne Liebesgeschichte. Die Mahnung vor Totalitarismus hat Orwell angesichts unvorstellbarer Naziverbrechen und im Angesicht des real existierenden Stalinismus und Maoismus geschrieben - Ozeanien und Eurasien, das war weniger Utopie als tatsächliche Möglichkeit.

1984 ist aber auch eine Art Essay über die Erfindung einer Neusprache zur Steuerung von Untertanen und der Wirklichkeit, wie Orwell sie möglicherweise u.a. in der klugen Studie von Victor Klemperer, dem LTI, erschienen 1947, über die Sprache des Nationalsozialismus gelesen hat (als Anhang zum Roman gibt es noch eine Erläuterung des „Neusprech“).

Dann wieder ist 1984 eine interessante Charakterstudie, weniger der Hauptfiguren, sie recht statisch und eindimensional sind, aber der Nebenfiguren, deren oft knappe Beschreibung viel über den Mensch in der Maschine, den Untertanen und Parteigänger erkennen lässt. Elias Canettis Buch „Masse und Macht“ kommt einem in den Sinn.


Mühsam besonders die Passagen, in denen aus dem Werk des ominösen Gegners des Großen Bruders zitiert wird, das verbotene Buch von Emmanuel Goldstein. Der Leser erfährt nicht, ob es ihn gibt oder ob er von der Partei erfunden wurde, um einerseits ein Objekt der Hassfixierung und andererseits eine Sehnsuchtsfigur als Test für die Standfestigkeit der Bürger zu haben.


In den drei Teilen, Systembeschreibung, Liebesgeschichte, Gefängnis, werden politisch-philosophische Grundfragen durchexerziert. Es wird manchmal allzu pamphletig und eine wirkliche Geschichte, einen klassisch Plot oder echte Spannung, findet sich nur in Ansätzen. Aber doch blitzt immer wieder auch ein wahrer Kern auf, wenn Orwell die Methoden der Verhöre und Folterer und die Erklärungen des undurchsichtigen O‘Brian, einem Spitzel des Systems, erläutert. Das ganze „Wie war es nur möglich?“, das in Deutschland nach dem Krieg unschuldig gefragt wurde, hier findet sich manche Erklärung.


30 Jahre Orwells 1984, vor rund 70 Jahren geschrieben. Gealtert in Form und Sprachstil, nicht aber in Mahnung und Klugheit über die Mechanismen des Totalitarismus, der durch eine Mischung aus Gewalt, Angst, Desinformation und geistiger Konditionierung  machtvoll herrschen kann. Gestern, heute und morgen.