George Saunders: Zehnter Dezember; Luchterhand, 272 Seiten

Es steht so manches auf Buchrücken. Hier stimmt es: „Das beste Buch, das sie in diesem Jahr lesen werden“, sagte das New York Times Magazine. Wie wahr!

Die Kunst der Kurzgeschichte, endlich auch Nobel-prämiert mit Alice Munro vor zwei Jahren, lebt weiter sehr erfolgreich in Nordamerika. In Deutschland wird die Shortstory ja eher als Fingerübung oder Abfallprodukt der Romanherstellung, dem „richtigen“ Buch, verstanden. Ausnahme war vor über 15 Jahren Judith Hermann - aber wo ist die heute? Schreibt nicht so tolle Romane.


Auf eine Saunders Story bin ich im New Yorker gestoßen, wo man dem Leser trotz der veränderten Lesegewohnheiten, denen Magazine heute folgen (kurze Texte, viele Bilder und graphischen Spielereien), nach wie vor 12-14-seitige Geschichten zu lesen gibt. Die Saunders Story „Die Semplica Girl Tagebücher“ hab ich da gelesen. Eine so grandiose, anrührende Mischung aus Familiengeschichte und SciFi, dass Weiterblättern zum nächsten Cartoon nicht in den Sinn kam: Ein Mann beginnt ein Tagebuch, nimmt sich überhaupt allerlei vor, anders zu machen in seinem Leben. Die Familie hat kaum Geld, die Kinder leiden darunter, Kindergeburtstag bei einem grotesk reichen Mädchen aus der Klasse eines der Kinder führt das dem Vater wieder vor. Dann Rubbellosgewinn und der Vater versucht in der Achtung der Kinder zu wachsen: Vorgarten des billigen Hauses wird gestaltet, hässlich teure Porzellanfiguren zum Geburtstag verschenkt und ein paar „SGs“ in den Garten gestellt. Da weiß man erst nicht, was das sein soll, bis sich rausstellt, in dieser Zukunft oder Parallelwelt, stellen die Leute sich als Statussymbol Immigranten (meist aus Mexiko oder Südasien) auf Podeste in ihren Vorgarten, die da Tag und Nacht stehen. Die sind mit Hirnkabeln irgendwie gesichert. Völlig normal scheint das wie heute das neuste iPhone. Und natürlich geht alles schief und der gutherzige Dad, der seine Kinder liebt, aber nicht mit Geld umgehen kann, trifft Entscheidungen… Toll, toll toll.


Oder wie es Saunders gelingt eine Geschichte beginnen zu lassen und man muss sich zwei Seiten erstmal sprachlich und inhaltlich zurechtfinden, bevor man kapiert, wer spricht und worum es geht. Und dann ist man voll drin. Da wechselt innerer Monolog mit Beobachtung einer zweiten Figur und dem inneren Monolog dieser Figur, die allerdings gerade in ihrem Kopf einen Dialog mit seinem Ich-aus der Kindheit führt, weil er versucht sich umzubringen und dabei an die schönen Momente seiner Kindheit denkt und Dialoge mit Freunden spricht - während die andere Figur beobachtet, wie der Mann sich umbringen will und nichts kapiert. Wie wir erst - und dann um so mehr. Die Geschichte heißt wie das Buch, Zehnter Dezember, und ist mitreißend, rührt zu Tränen und ist sprachlich so groß, wie ich es einmal in 10 Jahren in einer Kurzgeschichte lese. Wann hab ich das letzte mal beim Lesen geweint und gelacht und gestaunt im Abstand von 5 Minuten?


Fast alle Geschichten, auch die, die in einer Zukunft spielen, in der alle irgendwelche Tabletten nehmen, um anders zu sein oder Sex&Liebe-Experimente zu machen, alle Geschichten drehen sich um gesellschaftliche Randfiguren, Absteiger, Aussteiger, sozial Schwache und Kaputte. Nur dass in keiner einzigen Geschichte schön Mittelschicht-mässig bloß problematisiert wird oder mit Tragik geheischt - nein hier ist man im Kopf und im Leben der Leute, das auf den ersten Seiten der Geschichten oft wie das eigene aussieht oder eben ganz normal - bis dann irgendein Kind im Garten angekettet ist, das man nur aus dessen eigenen Kopf beschrieben bekam, wie es im Sandkasten spielt, oder der Satz einer Figur „Müsste mal aufräumen“ aus der Perspektive des Besuchers, der irgendwann in der Geschichte auftaucht, die Verhältnisse etwas anders beschreibt: eine Messibude, mit Schimmel, Tieren, Hundescheisse. Müsste mal aufräumen.


Nie verwendet Saunders den üblichen Effekt: Knallereinstieg oder „In die Szene schubsen“ dann Geschichte entwickeln und am Ende eine Wende oder ein flatternder Ausstieg aus der Erzählung. Eine Methode, wie sie Raymond Carver nur hatte, und damit so viele Autoren beeinflusste, weil sein Lektor oft die Hälfte einer Story wegeditiert hat.

Saunders erzählt keine Ausschnitte die wie Fotos vom Motiv, aber auch sehr vom Rahmen leben, sondern er erzählt ganze Geschichten. Nur in kurz.


Ach, es ließe sich über jede der irren und klugen und grandios konstruierten Geschichten viel schreiben, assoziieren und loben. Es bleibt, da leg ich mich fest, das Beste, was es 2015 zu lesen gibt.