Denis Johnson: Ein gerader Rauch  rowohlt 2008, 879 Seiten

Dieses Buch ein Markstein meines schlechten Gewissens gegenüber dem Leser in mir: im Januar 2009 gekauft, angefangen, nochmals angefangen, einen Schwung geschafft, dann was anderes, dann wenig gelesen, dann wieder angefangen. Ein packendes, fesselndes Buch, doch das vergangene Jahr forderte mir viel Zeit und Kraft ab, der Rest lief nur mit. Mit eben dieser Lesegeschichte genau das richtige, erste Buch von den Fünfzig.


Ich begegnete dem eigenartig stillen Autor Denis Johnson vor Jahren auf einer Lesung im LCB Berlin. Ein Ex-Drogenabhängiger, Ex-Soldat, jetzt Mitglied in irgendeiner strengen Kirche zu sich gefundener Schriftsteller, der seine Biographie weder verleugnet noch mit ihr prahlt. Er hat seine Erfahrungen gemacht - und er schreibt unter anderem darüber. Doch noch über viel, viel mehr: Johnsons Bücher sind allesamt sehr eigen und seine Sprache changiert zwischen Klarheit und Kürze, schönen Sprachbildern, Beschreibungen und fragmentarischen Dialogen sowie Szenen und Kapiteln, die ineinander verschoben gleich einem Kaleidoskop eine Geschichte erzählen - nein, nicht eine eigentlich, sondern mehrere: denn besonders in den umfangreicheren Büchern wie Schon tot oder eben Ein Gerader Rauch gibt es ein großes, lose verbundenes Figurenensemble, das manchmal an Robert Altmans Film Short Cuts erinnert. Und auch das kleine Bändchen Jesus Sohn kommt wie eine Sammlung Kurzgeschichten daher, ist dabei aber ein Roman, der in scheinbar unzusammenhängenden Kapiteln über die Drogen und Sinnsuche eines Mannes erzählt. Johnson hat eine spürbare Affinität zum Chaos, sucht schreibend Gründe für die Dummheit und Grausamkeit der Menschen, das Irrenhaus des Krieges wie in der apokalyptisch anmutenden Liberia Reportage In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt.


Ein Gerader Rauch ist in mehrere Jahre gegliedert, aber erzählt innerhalb der Jahre ohne erkennbaren Schwerpunkt auf eine einzige Figur von Amerikanern, Vietnamesen und Angehörigen anderer Nationalitäten, die in Vietnam vor und während des Krieg dort und auch zu Haus in den USA miteinander verbunden sind, ohne es immer zu wissen.

Die Geschichte beginnt mit der Ermordung Kennedys `63 und den Vorwehen des sich abzeichnenden Kriegs. Sie endet in den frühen 80er Jahren mit der „Nachgeburt“ dieses amerikanischen Versagens - um bei dem Bild zu bleiben.


Wie ein entferntes Geschützdonnern oder auch nur ein Rascheln im Gebüsch vorn im Dunkel - so ist der Krieg für die meisten Figuren in der ersten Hälfte des Buchs. Dann tritt er in ihr Leben ein mit einen Knall: als Chaos, Terror, Tod, Unüberschaubarkeit, Grausamkeit und Blut. Colonel Sanders, sein Neffe Skip, Hao ein Südvietnamese im Dienste der Amerikaner, dazu die Brüder James und Bill Houston als einfache Soldaten und Kathy, die kanadische Hilfsorganisation Mitarbeiterin. Sie bilden so etwas wie den Stamm dieser Rauchsäule, doch von ihr gehen diverse kleinere ab, Nebenfiguren und -helden, Verrückte, Opfer, Killer, Verwirrte, Agenten und eine Menge Leute, die ihr Leben verlieren und nicht wissen, für was, und solche, die es im Krieg erst finden.


Vieles bleibt schleierhaft, so die Kartei, um die es lange geht, ein Projekt des Colonels, das Skip an wechselnden Orten Südost-Asiens betreut. Eine Sammlung allerlei alltäglicher Beobachtungen, von Personen, Kulten und politischen Vorkommnissen. Eine Kartei, in der offenbar alles mit allem zu tun hat - wie man diese erratischen Infos verknüpfen kann, ist Skips Aufgabe, die natürlich ungelöst bleibt. Die Kartei ist ein Symbol der Unübersichtlichkeit und der nicht zu entschlüsselnden Zeichen, in der die Figuren sich bewegen, weder klar über die eigene Rolle noch über die derer, mit denen sie verkehren oder auch nur über den Grund, dort zu sein. Spielorte wechseln innerhalb der Kapitel, vom Dschungel nach Phoenix Arizona und an einen Strand und wieder in ein Camp oder die Tunnel der Vietcong.

Die Analogien zum Irakkrieg sind schon von anderen angemerkt worden, aber beziehen sich wohl eher auf das obskure Manifest des Colonels, in dem er die Gefahr einer Vermischung von Politik und geheimdienstlichen Informationen verdeutlicht, wenn die Infos nicht neutral behandelt, sondern zur Untermauerung einer längst gefassten politischen Entscheidung benutzt werden, ja wenn gezielt Informationen gesammelt werden, um

die Entscheidung zu rechtfertigen.


In diesem Krieg geht alle Ordnung verloren und selbst das Chaos gerät außer Kontrolle, weil die Menschen im Zentrum nach keinen erkennbaren Kriterien, seien sie militärisch, moralisch oder persönlich, mehr handeln. Alle sind beschädigt, ob sie das schon vor dem Krieg waren, lässt sich nicht immer sagen, doch was er aus ihnen macht ist eine Mischung aus Autismus, Irrsinn, Drogenrausch, religiösem Taumel, Nihilismus und striktem Handeln nach ganz und gar eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen mit der Begründung eines bizarren übergeordneten Zwecks. Das Chaos gerinnt in Sätze wie „Wir sterben sowieso“, die erst in diesem Kontext ihre wahre Kraft entfalten: Wir sind sowieso allein und verloren - also was soll‘s? Eine Eliteeinheit, frei flottierende Irre mit Waffen, die irgendwo irgendwen umlegen sollen, werben James als Mitglied: „Komm doch mit, wir sind die Herren der Nacht, wir nehmen Speed, wir ficken, wir töten, wir machen alles kaputt.“


Die Assoziationen mit Apokalypse Now sind unvermeidlich bei der Lektüre dieses grandiosen Romans.

Der Wahnsinn, bei Apokalypse Now ein vor sich hinfließender, düsterer Traum aus Drogen und Gewalt, hat bei Johnson eine theaterhafte, manische Betriebsamkeit und ist voller Gerede und Gestammel, Cut-up Gesprächen, sinnentleerten Dialogen, absurden Antworten auf konkrete Fragen, die aber kein Erstaunen beim Zuhörer (respektive dem Leser) hervorrufen, sondern im Gegenteil genau der richtige Antwortmodus zu sein scheinen. Beiläufig werden Kriegsverbrechen begangen, aber alle reagieren höchstens ein wenig entrüstet, als wenn jemand im Theater sein Handy nicht ausgeschaltet hat. Aber so etwas passiert, ist aber letztlich egal für das, was auf der Bühne passiert. Skip und der Colonel, ein geheimnisvoller Deutscher, dazu ein vietnamesischer Doppelagent, sie alle sind Teil eines Komplotts, wobei bis zum Schluss unklar bleibt, wer eigentlich wen hinters Licht geführt hat. Klar ist nur, wer den ganzen Mist überlebt. Der von dem man es als letzten erwarten würde.

,„Ich weiß einfach nicht, ob es zu real ist oder nicht real genug“, sagte James zu jemand oder jemand zu ihm.‘

Das sind so Sätze, die die Magie des Buchs ausmachen, weil der ständige Wechsel von Innen- und Außenperspektive, von Erzählzeit und Orten einen geradezu hineinsaugen in den Kontrollverlust, in diese Geschichten von Einzelnen, die gemeinsam im Herz der Finsternis unterwegs sind.


Die Spione werden zu Poeten, sie sind die Künstler dieses Krieges, sie denken nach und suchen Strukturen und Sätze, die beschreiben können, was man tun soll, was überhaupt passiert. Weil aber alles gleichzeitig und zu viel passiert, weil sie kaum ihr eigenes Handeln in dieser Umgebung noch verstehen, wird ihre Sprache, werden ihre Analysen immer abstrakter und wirrer, sie werden Kunst. Sie suchen einen Sinn, wo keiner ist, außer den, der der Moment einem bietet, dabei wohlwissend, das alle Mühen und Gefahren vergeblich sein werden. Und doch alles weitergeht, ohne sie, mit ihnen - vollkommen unerheblich.

Aus den einzelnen Teilen wird nie ein Ganzes werden, daran ändern auch Heldenmänner wie der Colonel, eine Art wortgewandter, redseliger Colonel Kurtz, ein durch diverse Kriege gestählter Charakter irgendwo zwischen Wahnsinn und Weisheit, nichts. Er wird in diesem Krieg ebenso verschlungen wie die meisten anderen - auch wenn z.B. die Houston Brüder ihm erst zu Haus in den USA zum Opfer fallen. Da gibt es eine Einheit vom Colonel ein Jahr an einem Hügel postiert, immer wieder einen Hügel erklimmend und umrundend ohne in ein Gefecht zu geraten, eine Sysiphus Analogie.


Der Roman endet mit einer Parallelschaltung eines Opferfests im Dschungel irgendwo an der Grenze zwischen Vietnam und Thailand, dazu ein Kongresshotel in USA, in dem auf andere Art die Schockwellen des dann fast zehn Jahre beendeten Krieges auslaufen.

Ein Amerikaner, Jahre später immer noch auf der Suche nach dem Colonel ist, für den dieser Mann immer noch leben MUSS, weil sonst der Krieg tatsächlich verloren wäre, der uramerikanische Maverick im Staatsdienst ein Symbol für all die gewonnenen Kriege dieses Landes, das mit dem Überleben dieses einen seinen eigenen Mythos überlebt haben könnte.

Ob er nun tot ist oder nicht, erfahren wir natürlich nicht, der Sucher wird jedenfalls in einem Ritus im Dschungel für den Tod der Götter und die Geburt neuer geopfert werden. Cut. USA, ein Kongresshotel, Modenschau mit Vietnam-Waisenkindern, damit voll angekommen in der US Gesellschaft, Überlebende eines Flugzeugabsturzes auch.

„Ein Abenteuer macht erst Spass, wenn es vorbei ist“, zitiert Skip seinen Onkel den Colonel kurz vor seiner Hinrichtung.


Das Buch ist voller hellsichtiger Sätze, Szenen von solcher Brillanz auf vielen der fast 900 Seiten, dass jeder Moment für sich genommen ein ganzes Buch wert wäre. Ob der absurde Dschungel und Tunnelkampf, eine Bar Szene in einer gesichtslosen Stadt in Vietnam, USA oder nur das hasserfüllte Schweigen am Nebentisch eines Cafés - alles fügt sich zusammen zu etwas, das zwar kein ganzes Bild, keine kohärente, irgendwo beginnende und endende Geschichte ergibt, aber dabei näher am Leben scheint, als das Leben selbst, das man als Leser so führt. Was für ein Buch!


Zum Abschluss, vielleicht so etwas wie die Essenz des Romans, der Grund für den Roman und zugleich sein Herz: Skip kurz vor der Hinrichtung über sein Leben sinnend: „Krieg heißt handeln, Nachdenken führt zum Verrat.“