Ingo Schulze: Handy - 13 Geschichten in alter Manier, Berlin Verlag 280 Seiten

Alter Manier? Was soll das bedeuten? Nach der vierten oder fünften Geschichte beginnt man es zu begreifen. Die Geschichten handeln alle von einem Mann, der meist Schriftsteller ist, der nicht selten Bücher geschrieben hat, die genau so heißen wie die von Ingo Schulze und der auf Stipendien und Lesereisen war, wie sie auch Schulze absolviert hat. Und konstruiert sind alle Geschichten ebenfalls in „alter Manier“ - also eine Mischung aus Verdichtung und genauer Beschreibung von einigen Stunden oder Tagen im Leben weniger Figuren.


Bei der letzten Geschichte wird das Spiegelspiel dann ganz offengelegt: Zu Beginn schreibt der Autor, wie er die Geschichte, die er gleich erzählt aufziehen will, warum er „ich“ schreiben wird (um dann später doch in „er“ zu wechseln) und worum es geht, wenn er einen Geschichte schreibt und was er mit dieser sagen wollte. Und: IN der Geschichte, will er eine Geschichte von sich einer Frau geben, in die er verliebt war und in der sie auch vorkommt. Und: er will sich mit der Geschichte, die er hofft zu schreiben durch die notwendige Bahnfahrt um der Frau die Geschichte zu geben, auch noch Beziehen auf andere Kurzgeschichten anderer Autoren. Ein wilder postmoderner „Was ist eine Geschichte“ Text.


Auch in der Geschichte davor „Eine Nacht bei Boris“ setzt Schulze seinen Verfremdungseffekt ein und spricht den Leser in einem Absatz direkt an, bezieht sich auf das bisher Geschriebene, als wolle er fragen: „Und, hat es funktioniert?“. Wenn also versucht wird die Fiktion als solche zu zeigen, die Magie zu zerstören, indem man sie ausspricht und erklärt, so gelingt es Schulze in fast allen Geschichten dennoch, die Illusion einer „wahren Geschichte“ zu erzeugen. Ich will wissen, wie es weitergeht, ich will wissen, was am Ende passiert, ich will (und auch das ist „klassische Manier), dass der „Cliffhänger“ zu Beginn der meisten Geschichten aufgelöst wird.


Manchmal scheint das Buch wie ein sehr ausgefeiltes Tagebuch, eine sehr persönliche Schilderung sehr persönlicher Geschehnisse, die lediglich durch andere Namen oder Abkürzungen von Städten („...in A. hatten wir...) unkenntlich gemacht wurden.

Die Geschichten spielen in Kairo, in Budapest, in Berlin, in Estland oder irgendwo in der Pampa von Brandenburg oder Thüringen. Schulze ist viel rumgekommen und das meist als Autor. Worin sich alle Geschichten ähneln ist die Gelassenheit und Genauigkeit der Beschreibung des Geschehens: Ob ein Paar, das sich offenbar trennt, weil sie mit einem tollen Ägypter flirtet und er krank wird, ob die zerbrechende und dann überraschenderweise zum Milleniumswechsel gerettete Liebe, die nur Zweck war, weil die wahre Liebe nicht funktioniert hatte, ob die bizarre Geschichte von einem Estland Aufenthalt mit Bären-Jagenden Finnen und einem Bären, der Fahrrad fährt - alle verbreiten das wohlige Gefühl der Sicherheit, dass hier ein wachsamer Erzähler uns hinein und wieder hinausführt in die Geschichte, dass alles gut ausgehen wird. Weil: Sonst könnte der Erzähler ja nicht davon erzählen.

Tragische Momente gibt es, auch Tod kommt vor - aber alles im Fluss der Geschehnisse, in denen die Erzähler mitten drin und doch nicht richtig dabei sind. Weil sie beobachten. Die ganze Zeit. Sich und die anderen, alles was so passiert.


Schulzes Geschichten sind sympathisch aber nicht langweilig und „normal“, sie ähneln damit dem Autor, der viel kann, aber sich nichts daraus macht oder ein Feuerwerk der Effekte abbrennt. Seine Erzähler und damit er selbst sind Figuren, die das Leben im Kleinen entdecken, den „Sinn“ in den Details finden und tatsächlich glückliche Momente erleben, weil sie das kapieren.


Am weitesten entfernt von dem Schulze Ton und der Selbstverwurstung in den Geschichten (Schriftsteller erlebt Dinge) ist die Geschichte „Gaube Liebe Hoffnung, Nr. 23“. Ein Anwalt mit Pickeln und offenbar Einzelgänger verliebt sich eines Abends in eine herrliche Frau und verbringt eine ebensolche Nacht. Außerdem ist er noch Partner in der Kanzlei geworden. Und dann kommt die Party und die Offenbarung. Der Knalleffekt mit dem viele Kurzgeschichten arbeiten, den hat Schulze hier ein einziges Mal genutzt, als er eine wirklich überraschend Wendung einbaut, bei der einem selbst (wie der Figur) das Herz höher geschlagen haben dürfte.


Ansonsten aber fließen seine Stories ruhig vor sich hin, nicht vorhersehbar, aber auch nicht vollkommen überraschend. Meist ist es wie im Leben: Man beobachtet, was passiert, ist aber zugleich mittendrin, man macht Annahmen und dann passiert das oder etwas anderes, ohne dass es allergrößte Relevanz hätte. An Geschichten mit der Botschaft „Danach war das ganze Leben anders“ erzählt Schulze nicht. Weil sie zu sehr Film und Fernsehen sind und nicht Literatur. Seine Geschichten blicken meist zurück und haben es nicht nötig einen „Turning Point“ als Pointe der Geschichte zu erzählen.

Bei ihm findet das Leben statt und doch ist es nicht das Eigene. Und deshalb glaubt man ihm, liest genau, freut sich über die exakten Beschreibungen von Situationen, die man zu kennen meint, von Sätzen und Figuren, die man manchmal selbst schon meint getroffen zu haben. Was die genau so sagen könnten. Und dann ist man selbst die Figur in einer Geschichte.