Hanno Rauterbeg: Wir sind die Stadt - Urbanes Leben in der Digitalmoderne, suhrkamp, 159 Seiten

Die Stadt ist nach den Untergangsszenarien der 70er Jahre, dem tatsächlichen Tod urbaner Zentren durch Fußgängerzonen und den immer fetter werdenden Speckgürtel aus Suburbia wieder da. Und wie! Die Stadt als Geburtsstätte der Moderne, der Kultur, demokratischer Freiheitsrechte (Revolutionen wurden immer dort entschieden). Sie ist auch durch Konformität, Überwachung, Privatisierung ihrer öffentlichen Räume oder Verarmung nicht kaputt zu kriegen.

In den westlichen Städten beobachten wir das Paradox, dass digitale Geräte und Dauernetz nicht zu mehr Vereinzelung und Individualismus führen (jeder starrt nur auf sein Smartphone oder hockt zu Haus vorm Tablet), sondern gerade zur Belebung des öffentlichen Raums.Das Internet „verdörflicht die städtischen Räume. Es befördert ein Verlangen nach Übersichtlichkeit, Austausch und Verbundenheit“, so Rauterberg. Der Wunsch nach Intensität und Dichte und auch analogem Austausch, an dem Ort, wo Menschen sich seit tausenden Jahren begegnen, auf dem Forum der Stadt, befördert durch digitale Technik: Digitalmoderne nennt Rauterberg dieses Phänomen. Ein Urbanismus von unten, der die Stadt neu entdeckt und sich den Raum aneignet: Asphaltwirklichkeit statt Cyberville.

Das Vorläufige ist das (irgendwann) Bleibende

„Urbanität wächst aus dem Unbestimmten, entspringt dem Wechselverhältnis aus Intensität und Gelassenheit, einer Spannung aus Vertrauen und Überraschendem, aus einer Mischung gesicherter und ungesicherter Räume, freier und vorbestimmter Sätze…“, schreibt Rauterberg. Diese sicher akkurate aber eben auch sehr komplexe Definition zeigt, dass es bei „Stadt“ vor allem um Balance geht, gerade bei Stadtleben. Anarchie und hohe Kriminalität bedrohen das öffentliche Leben ebenso wie strikte Kommerzstrategien, die halbprivate Konsumräume mit Hausrecht von Konzernen oder eine unbewegliche ängstliche Kommunalverwaltung, in denen die Ordnungsämter über Form und Intensität öffentlichen Lebens entscheiden.

Meist „beginnt sich dort etwas zu regen, wo niemand es behördlicherweise vorgesehen hat.“ Der regulierte, vor allem für Konsum vorgesehene öffentliche Raum der Innenstädte wird durch Parkouring, Freiluftbibliotheken, Urban Gardening, Flashmobs, Bikesharing, Geocaching, Streetart, Urban Gaming, Restaurant Days wie die „Weißen Dinner Partys“, Parkbuchtenparks (PARKing) oder Pop-Up Architektur zurückerobert.

In den USA kursieren schon Begriffe wie Tactical Urbanism, Do-it-yourself Urbanismus, LQC-Urbanismus (lighter, quicker, cheaper). Sie wollen nicht Dauerhaftes schaffen, sondern den Bewegungen in der Stadt Raum geben und sind so ziemlich das Gegenteil von Verkehrsberuhigung. Sie setzen nicht auf einen „Bilbao-Effekt“ durch Großbauten und kommen ohne ordnungsamtliche Genehmigungsverfahren aus. Wenn diese neuen Formen des Urbanismus auch nicht dauerhaft die Struktur der Stadt ändern können oder wollen, so stoßen sie dennoch Debatten über Selbstverständnis und Lebensqualität in Städten an und führen auf diesem Weg zu einem veränderten Denken bei Bürgern und Verwaltung.

Das Unvorhersehbare durch Akupunktur erzeugen

Man könnte die Aktivitäten als urbane Akupunktur verstehen, „die mit wenigen Stichen die Städtische Energie wieder fließen lässt.“ Die Städte der westlichen Hemisphäre aber „interessieren sich vor allem für die monetären Aspekte des öffentlichen Raums und nicht für seine ideellen, identitätsstiftenden Werte“.

Die „User-generated City“, von der hingegen viele Aktivisten sprechen, sie wird inzwischen auch von professionellen Stadtplanern und Architekten propagiert. Die wissen, dass Veränderungsprozesse tiefere Kenntnisse, meist mehr Geld und weit mehr Zeit verlangen, als der engagierte Bürger vermag aufzubringen. Sie sehen sich als Agenten des Wandels, arbeiten für Projekte, die von der Stadtplanung als unmöglich betrachtet werden und suchen dafür die Mithilfe der Bewohner eines Viertels oder einer Stadt. Das ist im besten Sinn "bottom up" Stadtentwicklung.

Das Unvorhersehbare der Stadt wieder möglich machen, unterschiedliche „Räume“ wechselnder Intensität und Charakter zulassen, Akkupunktur so lang, bis die Verwaltungen es spüren und nicht zuletzt das Engagement der Bürger jenseits von Berufspendeln und Shopping, das hat in Kombination mit der beschworenen Digitalmoderne die Stadt wieder zum pulsierenden Ort gemacht.

„Die Stadt ist keine Konsensmaschine […] es gehört zu den Grunderfahrungen der urbanen Öffentlichkeit, diese Spannung und Gegensätze nicht allein als Zumutung, sondern als etwas Produktives und Reizvolles begreifen zu können.“ Move on city!

Christian Caravante