James Salter: ALLES, WAS IST, Berlin Verlag, 367 Seiten

Über das Buch wurde viel geschrieben, nur Lobendes und von einigen geradezu Euphorisches. Beeindruckend in jedem Fall, dass Salter etwa 20 Jahre nach seiner Autobiografie 1998 kein Buch mehr geschrieben hatte. Und jetzt ganz einfach, mit fast 90 Jahren, einen Roman hinblättert, der seinen vorherigen in nichts nachsteht – wenn auch retrospektiver, einen längeren Zeitraum erzählend und nicht gar so bitter wie das scharfkantig, kalte Lichtjahre aus den 70er Jahren oder so sexuell aufgeladen, wie viele seiner Erzählungen. Aber ein amerikanisches Epos.


Ich mag Salter wie die meisten seiner amerikanischen Kollegen der Generation Post-War von Roth über Dellilo bis Cheever und auch die jüngeren wie Richard Ford oder Richard Yates. Sehr sogar. Salters Bücher sind, ja, Männerbücher (starke, oft Ex-Armee Männer, typische Wunschgroßväter und -väter auf den ersten, seltsam von sich und ihren Gefühlen entfremdete Männer auf den zweiten Blick). Und dennoch sind in all seinen Büchern und so auch hier die stärksten Figuren Frauen. Von ihnen gehen die Initiativen und meist auch Erfolge und Niederlagen für die Männer aus – außer vielleicht in Solo Faces, wo es um einen einsamen Bergsteiger geht, der einsam bleibt und stur will - Stoff für harte Jungs.


Alles, was ist erzählt zunächst das Leben von Philip Bowman, Navy Soldat, kurz Journalist und dann sein Leben lang Lektor - ohne dass wir viel über seine Arbeit, über seine Liebe zu Büchern erfahren würden. Es erzählt aber auch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, beginnend im Krieg im Pazifik, die Heimkehr, Nachkriegs-Suburbia-Träume, 60er Jahre Mad Men Atmosphäre mit  Barbesuchen, Anbandelungen, scheiternde und sich findenden Beziehungen, Hüten und Abendkleidern zum Coctail. Der Roman erzählt aus dem Leben dieses Bowman, der für die Bücher lebt, sein Leben aber allein über seine sämtlich scheiternden Lieben begreift: Die erste Ehe, die große Liebe danach und dann auch die kleinen Beziehungen in between – bis hin zu einer Racheaktion, bei der er die Tochter einer ehemaligen Geliebten nach Paris lockt, durchvögelt und dann sitzen lässt. Weiße Mittelklasse Literatur, wird das abschätzig von manchen genannt und der Vorwurf bezieht sich direkt auch auf die anderen oben genannten Autoren. Mag sein, aber James Baldwin oder jünger: Teju Cole lesen ist dann eben schwarze Mittelklasse Literatur - wenn auch mit einer anderen Dringlichkeit vielleicht. Salter ist 90 und hat fast ein Jahrhundert gelebt. Was er erlebte, können wir heute noch spüren.


Wirklich im Gedächtnis bleiben bei diesem schönen Buch die lakonische Beschreibung, mit der die große Liebe Bowmans zerbricht. Dem Leser stockt ein Moment den Atem. Oder die Szene, in der eine ehemalige Geliebte als „Blue Jasemin“ Gescheiterte ein Restaurant besucht und wir Zeuge eines beginnenden Niedergangs werden. Salter lässt immer wieder Namen geschickt weg, so dass wir nicht die Figur erkennen, sondern wie Passanten in der Stadt einen Unbekannten sehen, jemand mit schmutzigen Mantel in einem zu teuren Restaurant. Bis wir erfahren, wer diese seltsame Frau ist.

Immer wieder zeichnet Salter Skizzen einiger Nebenfiguren, streut sie wie flüchtige Erinnerungsinseln über das ganze Buch. Dies erzählen sie: Es geht immer weiter, Menschen kommen, Menschen gehen, Lieben, Freundschaften, Pläne und Ehen, Kinder und Jugend – alles fließt zusammen eine Weile, dann auseinander versickert und wird vergessen, Generation um Generation, bis alles nur noch Geschichten sind, die man Vergangenheit nennt.


Knapp 40 Jahre, die man (wie die Figur selbst) auf kunstvolle Weise nicht verstreichen spürt, erleben wir die Marksteine von Bowmans Leben und die einiger Weggefährten. Und am Ende beschließen Bowman & Freundin (wir sind irgendwo Ende der 80er Jahre nach dem Beginn des Buchs mitten im Pazifikkrieg) nach Venedig zu fahren. Tod in Venedig, wer weiß.

Und dann ist der Roman und das vielleicht letzte Buch diese großen, aber auch in USA nicht groß bekannten Autoren zu Ende. Was für ein Jahrhundert: echte Männern und Frauen, mit Aufbrüchen, Ausbrüchen und Umbrüchen, eine Kultur wird geformt in den 50-70er Jahren, die uns noch heute fest im Griff hat. Eine kulturell, wirtschaftlich und politisch weit über die USA hinaus bis heute zutiefst prägende Zeit, deren Kraft und Möglichkeiten man in diesem Buch erahnt. Ein Alterswerk von großer Wucht und Würde. Schön, einfach schön.