Jochen Distelmeyer: Otis; Rowohlt, 282 Seiten

Enttäuscht werden kann nur der, der etwas erwartet. Von Jochen Distelmeyers Debütroman hatte ich viel erwartet, weil ich Distelmeyers Songtexte auch ohne Musik lesen kann und nach Jahren immer wieder etwas Interessantes in ihnen finde. Dieser Zustand dieser Texte war entgegen anderslautender Behauptung tanzbar, man konnte sogar noch über ihn nachdenken. Und, verdammt nochmal, hat uns der Sänger/Ich-Erzähler von „Von der Unmöglichkeit Nein zu sagen, ohne sich umzubringen“ nicht versprochen, dass er Tinte für zwanzig Bücher im Bauch hat?

Mehr als 20 Jahre später ist OTIS Jochen Distelmeyers erstes Buch. Die Hauptfigur ist Tristan Funke, der nach dem Ende einer Liebe seinen Job bei einem Hamburger Verlag gekündigt hat, nach Berlin gezogen ist und dort an seinem ersten Roman schreibt. Weil er sich nach der Trennung selbst wie ein Verschollener fühlt, hat der Autor Funke beschlossen, sich bei seinem Roman an der Odysseus-Erzählung zu orientieren. Der Autor Distelmeyer schreibt darüber im zweiten Kapitel so:


Noch ohne profunde Kenntnis der großen Erzählung hatte er [Tristan] sich zunächst an die für ihre schwer zugängliche, hexametrische Form gescholtene, klassische Übersetzung Johann Heinrich Voß‘ gehalten; war dann anhand weiterer wie der in Insiderkreisen favorisierten Schadewaldt’schen Prosa-Übertragung mehr und mehr in die verwinkelten Bereiche des Epos vorgedrungen; und doch immer wieder zur Voß’schen Version zurückgekehrt, die ihm in ihrem Versuch, das epische Versmaß und den hohen Ton des Originals zu erhalten, trotz aller Fehler und Mängel den Figuren den nötigen, wie er es nannte, „Halllraum“ eröffnete, aus dem heraus sie als antike Wesen und Gottheiten für uns Heutige erst erfahrbar waren.

Was ist ein schwerverdaulicher Absatz wie dieser? Ironie? Literarische Mimikry des hohen Tons? Oder ist das etwa ernst gemeint? Vor allem ist dieser Absatz bedeutungsheischend und öde. Es gibt viele solche Absätze in OTIS. Noch schlimmer sind Passagen, die sich mit gesellschaftlichen Phänomenen befassen, weil Tristan beim Durchdenken seines Romans durch Berlin Mitte fährt und dabei einen geschichtsträchtigen Ort nach dem anderen streift. So entstehen ebenfalls im zweiten Kapitel gut vier Buchseiten, die unter anderem Hitlers Selbstmord im Führerbunker, die Fußball-WM 2006, die 17-jährige politische Diskussion um das „Mahnmal für die ermordeten Juden“, Helmut Kohls Pläne für die „Neue Wache“, die Neufassung des Asylrechts, den Streit zwischen Kohl und seinen Söhnen, Bundeswehreinsätze in Afghanistan und anderswo und die europäische Schuldenkrise in Verbindung mit Tristans Odyssee-Gedanken bringen. Dieses Mäandern ist an sich nicht schlimm, es könnte spannend und pointiert sein. Leider ist der Ton solcher Erzählpassagen eine Mischung zwischen Google-Fundstücken und den Kommentierungen eines Erstsemesterstudenten. Schon nach knapp 30 Seiten hatte ich das Gefühl, dass das Rowohlt-Lektorat OTIS einfach aufgegeben hat.


Die Erzählhandlung um Tristan Funkes schriftstellerische Versuche, seine diversen Liebschaften und die Abschiedsparty seines Musikerfreundes Ole Seelmann, die Tristan zusammen mit seiner Cousine Juliane besucht, kommt angesichts solcher Stilprobleme nie in Gang. Die Hauptfigur Tristan ist mit ihren komplizierten Gedanken so belastet, dass für Charakterzüge keine Zeit bleibt. Auch Nebenfiguren aus dem Berliner Kunst- und Nachtleben sind Pappkameraden. Wer sich im richtigen Leben hinter dem Dichter Reimar Wellenbrink oder dem bösartigen Intellektuellen Bernhard Lippnitz verbirgt, ist schlicht uninteressant – als Figuren haben sie den Roman nicht weitergebracht. Die einzige Figur, die etwas Leben hat, ist die „Gothic Lolita“ Juliane.


Der Schluss – ich verrate nur soviel, es kommt zu einem brutalen und sehr blutigen Kampfhundangriff – ist vor allem unmotiviert und dämlich. Als hätte Distelmeyer sich gedacht: Jetzt muss es aber auch mal ein Ende haben. Auf der Habenseiten stehen das ganz amüsante Kapitel 5, das sich um einen Theaterbesuch dreht und eine kleine Szene auf der Party (S. 189-192), in der der Lyriker Wellenbrink sein Werk erklärt. Es handelt sich bei diesem Werk um die drei Bände „transit. kreuzberger lethargien“, „transit II. freivers an morpheus“ und „transit III. wilmersdorfer leviathan. transit im klartext.“ Diese Trilogie erschien als Gedichtsammlung unter dem Titel „transit I-III. hymen. hoden. elegien“. An diesen Buchtiteln hatte ich mehr Spaß, als am ganzen Rest von OTIS. Wahrscheinlich bin ich primitiv.

sw