Jonathan Franzen: Unschuld, rowohlt, 832 Seiten

Ist viel geschrieben worden über dieses Buch. Ist auch lang gewartet worden auf dieses Buch. Sicher ist Franzen ein toller Autor und klug und intellektuell und er spricht Deutsch und kennt Berlin und Die Korrekturen war ein fantastisches Buch - nur das Gefühl von literarischer „Relevanz“ im Sinne von ein bleibender Roman, ein Buch über unsere Zeit und darüber hinaus usw., das stellte sich bei diesem Buch nicht ein.


Sicher ein Buch mit Zug. Komplex und klug und spannend, zeitgeistig und toll die Vergangenheit (und ihre Ideologien von Kommunismus und Kapitalismus) mit der Gegenwart (und den heutigen Ideologien im und um das Internet und Transparenz und Vernetzung) verknüpfend. Und auch die Figuren leben. Der Leser ahnt, dass hinter jeder der zentralen Figuren, dem jungen Mädchen Pip mit der seltsamen Mutter, dem Ex-DDRler und sexuell gestörten jetzt Hacker-Aufklärer Andreas sowie den amerikanischen Enthüllungsjournalisten Tom und Leila, mehr steckt, dass sie alle miteinander verwoben sind in dieser Zeit. Und wie sich das über viele 100 Seiten entfaltet, ist gut gemacht und gut zu lesen. Aber von zwei, drei Sätzen abgesehen, die dieses „Genau!, so ist das!“ Gefühl wecken, weil sie verdichten, was an Komplexität da draußen in der Welt in Sachen „Mensch & Netz“ passiert, von solch wenigen Sätzen oder Passagen abgesehen, erzählt das Buch einfach die Geschichten dieser Figuren. Und das kann man perfekt finden oder (Stichwort: Zeitgeistautor Franzen) streckenweise etwas fad. 


Franzen will mit den Figuren und ihren Schicksalen auch die Idee vom Netz als potentiell gefährliche Überwachungswaffe und Mittel zur Manipulation der Massen erzählen. Das gelingt, wenn auch die Analogie, vereinfacht gesagt: DDR=Internet nur ohne Mauer -  nicht ganz passt, wie ich finde. Es wird viel gereist und gelogen, es wird dem Geld und dem Ruhm und dem Schmiermittel für beides, dem Sex hinterhergerannt, es wird die Vergangenheit wahlweise verklärt oder verschwiegen, um weiter machen zu können und immer, immer Argumente für sich zu haben.

Es gibt eigentlich nur Einsame in diesem Buch, auch diejenigen sind einsam, die mit jemandem zusammen sind. Und es gibt Pip (im Orginal Purity), die jung, auf der Suche und dabei buschikos und ein bisschen verloren ist. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt und hat sich noch nicht mit all den Lügen der „Erwachsenen“ abgefunden. Auf sie projiziert der zentrale Charakter des Buchs, Andreas Wolf, all seine Hoffnungen, doch noch ein besserer Mensch zu werden. Und auch Tom und Leila projizieren auf sie die Hoffnung, jemanden wie sie selbst nur in jung gefunden zu haben (und eine Art Tochter) und auch Pips wirre Mutter hat auf sie alles projiziert, was sie in ihrem Leben nicht hinbekam - daher auch der Name. Pip scheint zum einen die geborene Anführerin, zum anderen die perfekte Mitläuferin und gleichzeitig bei klarem Verstand wie von ihren Gefühlen vernebelt zu sein. Sehr Mensch. Sehr gelungen. Sehr lebendig.


Die verschiedenen (historischen und biografischen und ideengenerierten) Stränge der Geschichte finden am Ende zusammen und sogar eine Art Abschluss, ja ein Happy End. Das hätte man Franzen so gar nicht zugetraut, dem alten Zeitgeistnörgler. Ist eben doch ein Romantiker - wie die meisten guten Künstler. Sonst würde man ja was ordentliches in der Bank arbeiten, oder was mit IT machen...


Christian Caravante