Vladimir Nabokov: Lolita, rowohlt 336 Seiten

Wohl der einzige Roman, dem der Autor noch ein erklärendes, rechtfertigendes Nachwort beifügte - und in einem Vorwort, unter Pseudonym, ebenfalls versucht, das unausweichliche moralische Urteil über diese Geschichte eines Pädophilen uns seines Verbrechens in Richtung eines ästhetischen, zutiefst künstlersisch getriebenen Projekts zu verschieben.

Wie Nabokov vorab und hinterher erläutert, was die Verlage zu ihm sagten und was die Reaktion der allermeisten Leser wohl sein wird, und versucht, diese Reaktion durch eine Umarmung in die Richtung zu lenken, die ER für uns für die richtige hält -  ist in jedem Fall einmalig in der Literaturgeschichte. Weil das Manöver gelingt. Dass sein Buch genau den Aufruhr verursachte, den er prognostizierte, in Europa erscheinen musste, weil es in den USA als pornographisch und (besonders dämlich) „unamerikanisch“ nicht veröffentlicht werden konnte, dass es längst zum Kanon des 20. Jahrhunderts gehört - all das hat Nabokov nicht überrascht. Er hat es geahnt. Weil er - wie es vielleicht nur ein großer Künstler kann - ahnte, dass seine Geschichte viel mehr in sich trägt, als die Geschichte, die jeder in einem Satz zusammenfassen kann: „40 jähriger liebt 12-jährige und tut mir ihr Dinge, die verboten sind.“


Tatsächlich ist Lolita ein Buch über Erinnerung, Einbildung, Fantasie und die Verführungsmacht von Sprache. Es verdient auch 60 Jahre später alle Aufmerksamkeit. Weil es bis heute irritiert und Fragen aufwirft, die nie überholt sind. Weil er uns verführt und weiß, dass wir urteilen werden, wenn die Geschichte endet. „Sehr geehrte Geschworene“, schreibt er. Einer davon sind wir. Es ist ein Schachbuch, das logisch versucht Lösungen zu finden, es ist eine Liebesgeschichte in der Folge von Romeo und Julia. Mindestens.


Es ist schwierig, einen Klassiker zu lesen und die Tatsache nicht im Kopf zu haben. Über manche Klassiker ist die Zeit jedoch nicht spurlos hinweggegangen, Sprache, Stil und Geschichte mögen mal ein Markstein der Literatur gewesen sein, sprechen aber zu gegenwärtigen Lesern nicht mehr oder nur flüsternd und unverständlich. So ein Buch ist Lolita keinesfalls. Eigentlich wartet man auf die nächste Verfilmung oder die nächste Inszenierung am Theater. Allein der Name Lolita ist inzwischen ein Markenname, wie Tempo für Taschentücher. Eine Lolita ist ein sexuell selbstbewusstes junges Mädchen, das kindlich-unbewusst, aber nicht ohne Wirkung (und das Bemerken dieser Wirkung) auf Männer, mit ihren Reizen spielt und - eben doch ganz Kind - über Reaktionen und Konsequenzen nicht nachdenkt. Weil sie es als Kind auch nicht muss. Es gibt Lolitas, „frühreife Früchtchen“  - wie auch immer man sie zu unterschiedlichen Zeiten bezeichnete. Bis hierhin kein Skandal.

Was aber den Roman Lolita von den Erlebnissen der allermeisten „Lolitas“ dieser Welt unterscheidet, ist dass dort ein Mann seine Fantasien auslebt und ein 12 jähriges Mädchen vergewaltigt. Er nutzt seine Position als Erwachsener gegenüber einem Kind (so sehr auch schon Frau in dem Mädchen aufscheinen mag) aus, manipuliert, kontrolliert sie und macht sie zu einer Art Lustsklavin on the road.


Doch von diesem verabscheuungswürdigen Tun handelt der Roman gar nicht so sehr. Er ist nicht pornographisch, sondern eine Liebesgeschichte, die im Kern zwar moralisch verwerflich und verachtenswert sein mag, aber doch auch eine obsessive Liebesgeschichte ist, die über Amerika, über Kindheit, Erinnerung, über Eltern, über Lust, über Schicksal erzählt. Lolita ist geschrieben in einer verführerischen Sprache, die mal mäandernd, mal packend, mal nervtötend, mal konzentriert, mal rechtfertigend, mal verurteilend da Panoptikum eines Mannes entwirft und wie ER sich an das erinnert, was er ist. Marin Amis verglich den Stil von Lolita mit dem Körper eines Bodybuilders: Der ist auch nicht dafür gemacht, um normale Tätigkeiten auszuüben, sondern um eingeölt, zur Schau gestellt und angesehen zu werden. Und das ist es auch, was Nabokov mit seinem Buch erreichen wollte. Und erreicht hat. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm mit Sicherheit nicht, er ahnte, die kleingeistigen Reaktionen und wusste offenbar zugleich, dass ihm mit diesem Buch ein großes Buch gelungen war.


Und so ist die Lektüre streckenweise beeindruckend, dann abturnend, ekelerregend, faszinierend Sie macht huschig und aggressiv und neugierig.  Trotz meiner uralten Taschenbuchausgabe im Kleindruck, trotz des ungewohnten Schreibstils und Lust auf ausführlichst Erzählt-Bekommen-Wollen einer fragwürdigen Geschichte voraussetzt, trotz der Bekannheit der Geschichte, der zweifachen Verfilmung und des „Lolita“Klischees - es ist noch immer ein großartiges Buch fast 60 Jahre nach seinem Erscheinen. Es lässt einen ratlos zurück und wie vom Autor antizipiert stellt man sich die Frage: Was soll dieses Buch und was will dieser Autor damit? Genau das! Schon ist man mittendrin in einer Debatte über Form und Funktion, über Inhalt und künstlerische Botschaft, über psychoanalytisches Storytelling und klassisches Storytelling, über Sprache und Kultur. Man ist in einer Debatte über Kunst verwickelt, was sie darf und kann.


Ohne das, ohne die vielen Schichten dieses Buchs, wäre es wirklich nur der Bericht eines kranken Menschen. So ist es ein Buch über so ziemlich alles, was Schreiben und Kunst und Erzählen bedeutet.