Manu Larcenet: Blast, Reprodukt, 204 Seiten

Bewegende Volltreffergeschenke sind so toll, weil sie belegen, dass der Schenkerfreund mich kennt und dabei doch schenkt, was auch ihm gefällt. So wird man noch mehr Freund.

Bei einem Comic Roman wie BLAST muss das besonders betont werden, weil es alles andere als HappyHappyDingdong Geschenk ist. Düster und bedrückend ist die Lektüre, aber ebenso besonders und kraftvoll. Es sind fantastische Zeichnungen und Dialoge, wie man sie in Comics (die keine Romanadaptionen sind, wie es gerade Mode ist) selten liest.


Es geht um einen Fetten mit Schnabelnase, der eine Frau fast umgebracht hat und nun in Polizeigewahrsam zwei Ermittlern seine Geschichte erzählt - die zunächst gar nichts mit der Fast-Ermordung zu tun hat, sondern nur mit ihm. Dem Kontext. Dem Hintergrund. Die Geschichte eines Mannes jenseits von Fakten und Rationalität. Polza Mancini ist Schriftsteller - genauer gesagt schreibt er Bücher übers Essen, was aber seine Fettleibigkeit nicht erklärt. Er säuft und frisst Schokoriegel, das macht ihn fett. Der Tod seines Vaters, so beginnt die Geschichte, die er den Kommissaren erzählt, löste in ihm den nachvollziehbaren Drang aus, sich volllaufen zu lassen. Er macht das auch irgendwo in der Stadt. Und in der Nacht, erlebte er den ersten „Blast“. Man könnte es als Epiphanie bezeichnen, als Damaskus Erlebnis, wie Saulus, als er vom Pferd stürzte und zum Paulus wurde, als Offenbarung, als Drogentrip mit Folgen, als Sekunden-Erleuchtung. Und so wird sie auch gezeichnet - als bunte Kinderbilder, die Mancini zu einem leichten und schwebenden Wesen verwandeln, das ALLES versteht und sieht, wie es ist. Ihn selbst, die Welt, das Leben.


Ich habe mal solche Momente erlebt. Von erschütternder Klarheit dank Kräutern oder in einem Moment von Schmerz und Verlust. Und mein Freund weiß das. Ob das Buch auch deswegen zum Geschenk wurde? Es handelt aber auch von einem Außenseiter, der wir nie so waren und der Entscheidungen trifft, die wir nie so getroffen haben - aber klammheimlich vielleicht beneiden. Einfach abhauen, in den Wald gehen, Erkenntnis suchen. Ein wirklich außergewöhnlicher erster Teils eines Comic, der 2012 Comic des Jahres wurde - ich kenne die Konkurrenz zwar nicht, aber das IST ein gutes, sehr gutes Buch.


Wir verfolgen hier den Anfang von Mancinis Ausstieg aus seinem Leben (oder eigentlich Einstieg in sein wahres Leben?) und warten mit ihm auf den nächsten, erhofften Blast. Er lässt dafür Frau (die einzige, die er je hatte) und sein ganzes Leben (das einzige das er hat, wie er versteht) zurück, geht in den Wald, lebt allein, säuft und säuft und wartet, trifft Aussteiger (hier wird es etwas zu gesellschaftskritisch-banal finde ich) und geht dann fast darauf, wobei er immerhin zu seinen zweiten Blast kommt.


Der Ton ist gesetzt, der Weg der Selbstzerstörung, um Erkenntnis zu erlangen, um das Leben, sein Leben und dabei die ganze Welt, wie sie zusammenhängt, zu verstehen. Die Zeichnungen sind alle in Schwarz-Weiß, der Blast erscheint bunt. Es gibt viele Bildstrecken ganz ohne Text, großartige Überleitungen in die Rahmenerzählung bei der Polizei, und wieder zurück zum Leben im Wald, in Dunkelheit und Stille - die keine ist.

„Der Urlauber wechselt Geld, der Reisende die Perspektive“, heißt es an einer Stelle des Buchs, und es ist das, was dieses Buch mit dem Leser machen will: Ihn auf eine Reise schicken. Nicht Erholung und Chillen, sondern Verstörung und Rütteln.

Und ob man nun selbst ein ähnliches Blast-Erlebnis mal hatte oder nicht, spielt keine Rolle, denn hier geht es darum, warum wir leben, für was und wen. Und warum wir so selten sein können, was wir sind oder sein wollen. Meinem Freund sei Dank will ich nun noch öfter Leser sein und bin es einfach. Teil 2 ist gerade angekommen...

Christian Caravante