Mark Lewisohn: All These Years Volume 1 – Tune In. Little, Brown 946 Seiten / (Steffen Wagner)

Ich gebe es zu, ich bin ein fauler Sack. Obwohl ich ein riesiger Beatles-Fan bin, seit mir mit acht Jahren das Album Rubber Soul in die Hände fiel, habe ich vom ersten Teil der auf drei Bände angelegten Beatles-Biographie von Mark Lewisohn nur die Kurzversion gekauft: Diese Kurzversion besteht aus 840 Seiten Text und 106 Seiten Anhang. Die Extended Special Edition, also die Langversion, hat 1.728 Seiten und ist auf zwei Bücher aufgeteilt, weil sie sonst wahrscheinlich die Arme des stärksten Lesers überfordern würde.

Das Buch heißt „All These Years Volume 1: Tune In“. Ich sollte erwähnen, dass das Buch der erste Band einer Trilogie ist. Lewisohn plant auch die beiden weiteren Bände jeweils in einer Lang- und einer Kurzversion von ähnlichem Umfang wie „Tune In“. Also kann man sich entscheiden, ob man etwa 2.500 oder über 5.000 Seiten über die Karriere der Beatles lesen will.


Lewisohn schreibt in der Einführung des Buches, dass es sein Ziel ist „alles aufzuspüren, was die Beatles (und die, die ihnen nahestanden) jemals zu irgendjemand gesagt haben“. Nachdem ich diesen Satz gelesen hatte, wurde mir etwas schwindelig und ich habe mich gefragt, ob ich dieses Buch wirklich lesen will, auch wenn es „nur“ die Kurzversion ist. Nach der Lektüre kann ich diese Frage so beantworten: Dieses Buch lohnt sich nicht nur für jeden, der sich für Pop Musik interessiert, sondern auch für jeden, der sich für Nachkriegsgeschichte interessiert.. Außerdem quäle ich mich seit Wochen mit der Entscheidung, ob ich die Special Extended Edition noch kaufen soll oder nicht.

Wie hat Lewisohn das geschafft? Was den Autor Lewisohn angeht: Er erzählt ungeheuer detailliert, ohne den Leser mit Details zu erschlagen. Und natürlich ist die Geschichte, die er erzählt unglaublich interessant. Damit meine ich nicht die Geschichte der Beatles, sondern viel eher die Kulturgeschichte der Musik und der Jugend in England. Das klingt jetzt hochgestochen, ist es aber nicht, weil Mark Lewisohn kein deutscher Akademiker ist – er kann also verständlich und spannend schreiben.


Nach einem kurzen Prolog widmet Lewisohn die ersten 80 Seiten der Familiengeschichte und der Kindheit von John Winston Lennon, James Paul McCartney, George Harrison und Richard Starkey aka. John, Paul, George and Ringo. Mit der Musik geht es dann so richtig los im Jahr 1956. Dem Jahr in dem John Lennon 16 wurde. Dann wird auch das Erzählen immer dichter. Hier ein Beispiel dafür, was es bedeutet, wenn Lewisohn im vollen Spürmodus ist. Mitte August 1960 gingen die Beatles, damals noch mit Pete Best am Schlagzeug und Stuart Sutcliffe am Bass, zum ersten Mal nach Hamburg und blieben bis Dezember. Die Zeit vom 15. August bis zum 31. Dezember 1960 nimmt im Buch 50 Seiten ein. Auf 50 Seiten werden in anderen Musikbiographien Jahre behandelt. So entsteht eben nicht nur vom Leben in Liverpool, sondern auch vom Leben in Hamburg oder genauer gesagt auf St. Pauli ein faszinierendes Bild. Von der Jugend, von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den beiden Hafenstädten Hamburg und Liverpool. Von der Nachkriegszeit, der verfluchten Zeit nach dem Scheißkrieg, die jetzt endlich zu Ende geht, weil etwas Neues beginnt. Und dieses Neue kommt natürlich aus Amerika und ist die Musik. Und dabei wird klar, wie viel Musik damals bedeutete (und auch wie wenig Musik heute bedeutet). Denn John, Paul und George, das wird schnell klar, waren Musiker und nicht Anderes. Das wussten sie damals wahrscheinlich selbst noch nicht so genau. Aber im August 1960 hatten sie im Alter von 19, 18 und 17 Jahren eigentlich alle anderen Lebensentwürfe über Bord geworfen. Es gab nur die Musik. Und weil Lewisohn so akribisch recherchiert hat, erfahren wir nicht nur biographische Details, sondern auch alles über die musikalischen Einflüsse, die die Beatles geprägt haben. Alles über die Songs, die sie bei ihren Liveauftritten spielten, bevor an eine Platte überhaupt zu denken war. Alle diese Songs finden sich übrigens auch in dem 30-seitigen Index am Ende des Buches wieder. Von „Alley Hoop“ von den Hollywood Argyles bis „Your Feet’s Too Big“ von Fats Waller. Der Kauf des Buches lohnt sich alleine, um einfach mal diese Songs im Internet in ihren Originalversionen nachzuhören Dieser Index ist übrigens der am besten aufgebaute, umfangreichste und nützlichste Index, den ich je gesehen habe. Das schaffen selbst Wissenschaftsverlage nicht.


Das einzige Problem des Buches ist, dass es am 31. Dezember 1962 endet. Ringo war gerade einmal vier Monate als offizielles Mitglied dabei und die Beatles hatten erst eine Single veröffentlicht, „Love Me Do“ und eine zweite Single aufgenommen, „Please Please Me“, die am 11. Januar 1963 in die Läden kommen sollte. Die Karriere, die langsam Fahrt aufnahm, nachdem am 9. November 1961 Brian Epstein die Beatles zum ersten Mai live im Liverpooler Cavern Club auf der Bühne gesehen hatte, befindet sich also kurz vor dem Durchbrechen mehrerer Schallmauern. Was ich damit sagen will: Das Ende dieses Buches ist der brutalste Cliffhanger aller Zeiten. Ich will unbedingt wissen, wie es weitergeht. Obwohl ich schon Stunden über Stunden an Filmmaterial gesehen und rund ein Dutzend Beatles-Bücher gelesen habe, weiß ich, dass ich über die Zeit ab dem 1. Januar 1963 nichts weiß. Ich hoffe inständig, dass Lewisohn mit dem Schreiben gut vorankommt. Denn in den nächsten beiden Bänden von „All These Years“ wird nicht weniger enthalten sein, als die wichtigsten Momente der Popkultur im 20. Jahrhundert und alles das, was mit diesen Momenten verbunden ist. Wenn alles gut läuft, werden es die interessantesten Geschichtsbücher, die über die Sechziger Jahre erschienen sind.

Steffen Wagner