Morrissey: Autobiography; Penguin Classics, 457 Seiten

Der Mann ist ... ein Typ, ein Egomane, ein großer Künstler, ein Radikaler, einer von ganz unten, ein nachtragender, kleinlicher Mensch, der große Gesten liebt, ein kluger, schlagfertiger, aufmerksamer, ja feinfühliger Mensch, der übel schimpfen kann. Morrissey ist ein Mann voller Widersprüche, vielleicht ist er sogar der fleischgewordene Widerspruch - in seinen Songs, in seiner Musikkarriere und in seinem Charakter. Pompös neben zart, laut neben wimmernd, dandy neben working-class, arrogant neben schüchtern. Dieses Buch zeigt - obwohl ja von ihm SELBST geschrieben - viele dieser Facetten. Weil er keine Angst hat sich zu zeigen, statt wie so viele Autobiografien, seine Vergangenheit vor allem zu einer stringenten Erfolgserzählung zu machen, zu einem Leben zu basteln, wie man es gern gehabt hätte, wie es aber nie war. Das erratische, zufällige, ungeplante, überraschende, parallele von Scheiß und Schön, von Hass und Liebe, von Glück und auf die Fresse - es IST in diesem Buch.


Die ersten 200 Seiten habe ich geliebt und manche gleich mehrmals gelesen, weil sie vielleicht nicht historisch (wen hat er wann warum getroffen) immer korrekt wiedergegeben sind der kleine Steven Patrick in Manchester, voller Komplexe und umgeben vom Tod und Bösartigkeit und Tristesse, eine Welt, die man sich gar nicht mehr vorstellen kann. Irische Familien mit 8 Kindern in einer Wohnung, üble Erziehungsmethoden in den Schulen, Gewalt von Eltern, Lehrer, Älteren, Kollegen, ein Leben das nur Überleben war, so scheint es - und darin Steven, der Musik liebt, der wie vom Stein getroffen die New York Dolls oder Bowie hört (und sieht) und diese Begegnung nicht weniger seine Welt verändert hat, als wären sie Alien aus seiner anderen Galaxie gewesen. Morrisseys Sprache für diesen Teil seines Lebens ist assoziativ, lyrisch, Fragmenten von Erinnerung folgen Geschehnisse, folgen Gefühle und Gedanken, folgen Interpretationen, was dies mit ihm gemacht hat. Und als Leser ist man drin in dieser Welt, spürt, wie unwahrscheinlich, wie fast unfassbar weit der Weg für diesen Jungen bis hin zum Popstar gewesen ist.


Keine Angst: Der ganze Vegetarierfanatismus kommt nur an ganz wenigen Stellen vor, keine Phillipika gegen Fleischesser im ganzen Buch. Und auch relativ wenig Selbstmitleid. Dafür eine ganze Menge Beschuldigungen gegen seine Plattenfirma, gegen die gierigen Mitmusiker, gegen Manager, andere undankbare Kollegen und Weggefährten - außer Johnny Marr. Was ermüdend im letzten Viertel der en detail geschilderte Prozess gegen seine ehemaligen Bandkollegen von The Smith. Zu viele Rechtfertigungen und Erklärungen, die nur zeigen, er will Recht haben, er kann aber auch nicht sagen „Scheiß drauf, ich bin MORRISSEY, sollen die Penner ihr Geld haben und dann wieder im ewigen Vergessen verschwinden.“ Nein er ist nachtragend und pingelig. Die ganze Smith Geschichte, die vier Jahre Weltruhm werden auf (gefühlt) 20 Seiten abgehandelt. Danach kommt Amerika, Weltruhm als Soloman, die Angst der Amis vor seinen Konzerten (Tumult, Schlägereien, Hysterie) und Begegnungen mit dem und Gespräche mit der und Projekte mit diesen... Das letzte Viertel war von kleinen Anekdoten (die Romjahre...) abgesehen ein wenig ermüdend, aber immer noch mit sein paar klugen, schönen Worten zum Leben und So-Sein zwischen viel Celeb-Geschreibe.


Und nun also die neue Platte, „World Peace is not of your business“. Tolles Werk. Und vor ein paar Tagen die Nachricht, er hat Krebs. Und sein Roman erscheint kommendes Jahr. Den kaufe ich, wenn es nicht um Gerichtsprozesse geht, sofort, denn er kann schreiben und erzählen und Atmosphäre schaffen, dieser Mann Morrissey. Ach ja und singen und texten.

Sollen all die Musikredakteure an ihrer Kleinlichkeit ersticken, wenn sie ihm vorwerfen kleinlich und nachtragend  zu sein, sollen sie am eigenen Geheule „Morrissey sagt immer wieder Shows ab...“ taub werden, wenn sie es nicht sind. Denn dieser Mann darf das. I have forgiven Jesus. Er ist vielleicht manchmal ein Arschloch und ein arroganter Pisser, aber er machte und macht immer wieder Songs, die noch lange sehr lange bleiben werden - auch dann noch da sind, wenn niemand, auch nicht die Musikredakteure, die jedes Jahr „das nächste große Ding aus UK“ hochschreiben, sich noch erinnern, was sie da vor 2, 5 oder 8 Jahren hochgeschrieben haben.