NICHT GELESEN: Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Eine ganz neue Rubrik: Bücher, die ich NICHT lesen werde. Das könnte schnell in die Millionen gehen. Aber dieses, Littells "Die Wohlgesinnten" hat einen besonderen Grund, NICHT gelesen zu werden. Ich hatte es gekauft, am Tag des Erscheinens, hatte die letzten 12 Monate die Geschichte des Buchs in Frankreich verfolgt, hatte mich gefreut, ja gefreut, auf das Buch, ein historischer Stoff, der mich beschäftigt, in einer Perspektive, die wirklich fremd und neu ist für einen Roman. Dazu die irre Publikationsgeschichte, das erste Buch eines unbekannten Autors, 1200 Seiten, dann Prix Goncourt und viel „Uffrejung“. Es klang wie wie der literarische Schlussstein einer Kathedrale von Büchern über den Holocaust.

Und dann lag es da auf meinem Lesetischchen, ein Ziegel von Buch, zurück ins Deutsche übersetzt mit noch mehr Seiten, einem extra Begleitband, im Internet kann man bei amazon das Organigramm der Wehrmacht und der SS runterladen und einen Brief von Littell an die Übersetzer. Das Buch selbst im Gallimard Design: beigefarbener Einband mit roter Banderole, kein Foto, bestechende Klarheit.

Die Plastikfolie noch drum, konnte ich mich nicht durchringen, sie zu öffnen. Es waren gar nicht die sicher 10 Rezensionen, die ich gelesen habe: keine einzige positiv, was zu erwarten war - wir sind schließlich in Deutschland, dem Land der Holocaust Experten und der vom Kainsmal der Täternation durchdrungenen Aufarbeitungsindustrie. Auch nach 60 Jahren gehen im ZDF bei Guido Knopp, im Kino oder Spiegeltitel über Hitler und seine Spießgesellen IMMER!

Und da hinein kracht dieses Buch, das laut Autor Littell sich an Flaubert messen lassen will und laut einiger Kritiker an Tolstoi anknüpft, und dabei nicht weniger klären will, als DAS Rätsel des 20. Jahrhunderts: WIE war es möglich, wie konnte eine Kulturnation wie Deutschland die industrielle Vernichtung, die bürokratisch bis ins Detail organisierte Verschrottung von Millionen Menschen durchführen?
Ein jüdischer Jungautor aus Amerika und Yale Student, schreibt auf französisch ein Buch aus der Perspektive eines deutschen SS Manns und landet einen riesen Erfolg bei den Nachbarn - das musste Probleme geben.

Das große, unfassbare WARUM und WIE war es möglich, das will Littell mit der Figur des homosexuellen, inzestuösen, Muttermörder und SS-Manns Max Aue klären, der in einem wilden Ritt durch das Europa der Kriegszeit überall auftaucht und mitmischt, der mit Himmler speist und Juden in Babi Jar meuchelt, der Debatten führt über klassische Musik und dann wieder gut deutsch strukturiert vernichtet, was ihm zur Vernichtung aufgetragen wurde, der vögelt, was er vor die Flinte kriegt und dann wieder den strammen SSler gibt. Klingt gut in Anbetracht der Tatsache, dass noch viel unfassbarere Dinge damals geschehen sind als der in Aue fleischgewordene Irrsinn.
Doch fast alle Rezensionen fanden Gründe, das Buch als mißlungen zu bezeichnen. Von Gewaltporno, über geschwätzig, sprachlich unzureichend, zu lang und doch inhaltsleer, zu detailliert bis zu „unglaubwürdig“ (als wenn das ein Kriterium für Literatur wäre) gingen die Vorwürfe. Alle hatten was auszusetzen, aber alle was anderes. Und alle verpackten es in gewundenen Worten, in bemühter Tiefgründigkeit, um sich ja nicht vorwerfen zu lassen, man kritisiere das Buch als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der eigenen, so profitablen und irgendwie exklusiven Beschäftigung mit dem Holocaust.
Aber es gab in den vielen Gründen, was als schlecht, nicht gelungen oder schwach konstatiert wurde zwei inhaltliche Konstanten: Keiner hat dem Autor historische Ungenauigkeit vorgeworfen (Dienstränge und Namen und Orte und Geschehnisse scheinen von historischen Forschungen gedeckt) und ALLE waren von den drastischen Gewaltszenen, den farbenfroh beschriebenen Massakern erschüttert, von denen das Buch lebt und durch die es seinen Schrecken gewinnt: die "Dabei-Perspektive".

Als ich das erkannte, erinnerte ich mich an zwei Leseerlebnisse der Vergangenheit: Zum einen den Roman American Psycho von Brett Easton Ellis und zum anderen das Sachbuch Täter von Harald Welzer - zwei Bücher die ich NICHT zu Ende lesen konnte, weil mir schlecht wurde, nicht im übertragenen Sinn! Die Bilder dort, die Beschreibungen der Gewalt in diesen beiden Büchern drangen bis in meine Träume. Ich bin nicht zartbesaitet, hab früher gern Horrorfilme gesehen, war großer King Fan, ich ertrage sogar die alltägliche Bildgewalt in den Nachrichten ganz gut. Aber diese beiden Bücher waren zuviel. In beiden findet man weniger literarisierte Gewalt, sondern kalt, nackt, direkt beschriebene Exzesse des menschlichen Geistes, der Dinge entsinnt, was man mit anderen Menschen, ihren Körpern und Seelen tun kann. Dinge, die mir den Schlaf rauben. Bei American Psycho unterfüttert mit viel krankem Sex und Gefühllosigkeit, bei dem Sachbuch von Welzer unterfüttert mit beängstigend gelassener Reflexion der Täter über ihre unfassbaren Taten. Also zusammen genau die zwei Elemente, die den Kern von Littells Buch ausmachen sollen
Das kann ich nicht lesen, wurde mir klar. Und weil ich mal selbstbewusst behaupte, dass mein Bildungsbedarf in Fragen Holocaust gut gedeckt ist und weil ich Literatur zwar nicht als bloße Unterhaltung, aber eben auch nicht als psychologische Konfrontationsstrategie begreife, hab ich das Buch in die Buchhandlung zurückgebracht.


I prefer not to... um einen berühmten Herrn zu zitieren.