Thomas Pynchon: Natürliche Mängel, rowohlt 477 Seiten

Mein erster Pynchon Roman, den ich bis ans Ende bringe. Gelockt hat man mich mit 60er Jahre Surfer-Krimistory und der von den Rezensenten verbreiteten Behauptung, der Roman gehöre zu den Zugänglichsten des Groß-Autors.


Gesagt, gekauft und losgelesen. Sie haben nicht zu viel versprochen - nur dass ausgehend von Werken wie Gravity‘s Rainbow oder Mason&Dixon das Buch vermutlich schon deshalb zugänglicher ist, weil es nur 2/3 des Umfangs jener Werke hat. Aber das ausufernde Figurenkabinett, die ausfransenden Erzählstränge, der rudimentäre, manchmal tief, tief unter dem Zusammenhang verlaufende rote Faden, die vermeintliche Sinnlosigkeit so vieler Szenen und Dialoge und Songstrophen wie überhaupt die merkwürdig unnachvollziehbare Kapitelstruktur - das ALLES hat auch dieser Roman. Auf eben „nur“ 480 Seiten. Spass hat er aber gemacht.


Ich habe gelacht, ich hab mich (je nach Lesesituation)  fallen lassen und damit abgefunden, nach dem Plot (Privatdetektiv sucht verschwundenen Millionär im L.A. der 60er Jahre) nicht mehr zu suchen. Einfach die Figuren wie in einem Drogentrip vorbeiziehen lassen, ihr Geplapper, ihre Paranoias, ihre Lust, ihre hirnrissigen Weltkerklärungen und Ideen vom Leben, die verrückten Pärchen und bedröhnten Hippies, Rocker und Knalltüten, die korrupten Bullen, die schönen Frauen mit Hintergedanken, die Krawattensammlungen mit handgemalten Pornoszenen darauf, die ständig qualmenden Kool Zigaretten und die überhaupt diese ganze Laberei, Raserei, Vögelei und Fragerei, die einfach stattfindet ohne Zusammenhang oder Ergebnis - außer dass es immer weiter geht.


Doch genau das ist ja bekanntermaßen das Credo des Autors: eine eigene Welt erschaffen und in dieser zeigen, was wir uns in der wirklichen nur einbilden: dass alles mit allem zusammenhängt, aber NIEMAND begreift wie, egal was er behauptet. Dass die 60er dafür besonders geeignet sind bei allem Aufbruch in neue Sphären durch Drogen Sex und Rock‘n Roll ist klar.

Und in diese Welt hineingesponnen die Detektivgeschichte um Doc den Kiffer-Detektiv und Mickey den verschwundenen Ex-Baulöwen und Hippie Philantrophen. Und um geschätzte 80 andere Typen, die kommen und gehen und labern und in ihr Leben zurück diffundieren, von dem man sehr sicher sein kann, dass es auch außerhalb des Buches weitergeht, gerade weil es bei ihrem Auftritt in diesem Roman so schillernd sinnlos daherkommt und damit unserem sehr ähnlich ist.


Es macht überhaupt keinen Sinn, die Geschichte dieses Romans in irgendeiner Weise zusammenfassen zu wollen. Es gibt die erwähnte Suche und das ist alles, was sich durchzieht. Der Rest passiert.

Manchmal hatte ich als Pynchon unerfahrener, vor allem Abends, meine Mühe beim Lesen. Auch wenn ich wieder an der Stelle einsetzte, wo ich am Vorabend aufgehört hatte, meinte ich einige Seiten zurückblättern zu müssen, um wieder „reinzukommen“. Nur um jedes mal wieder festzustellen: Das bringt doch nichts, da IST keine Hinführung zu dem Moment, wo ich mit dem Lesen aufhörte.

Was keinesfalls von Nachteil für die Lesefreude war, im Gegenteil. Wie in einem Film, in dem nicht viel passiert und kaum einer redet, streifen die Gedanken beim Lesen, animiert durch das Gelaber, das Gemache und Gerenne hier hin und dahin einfach ab, kehren zurück und lassen sich irgendwann sanft gleiten wie ein Dope-Head bedröhnt auf seinem Teppich mit Pink Floyd im Cassettenrecorder.


Und so fühlt sich dieses Buch auch an. Faktenüberladen mit 15 verrückten Ideen auf jeder Seite, Orte, die entweder sein könnten und dann toll wären oder doch gar nicht sein können und ebenfalls toll wären. Und darin, immer unterwegs, unser verbimmelter Doc, dessen Intention überhaupt nach Mickey zu suchen (ausgenommen die Chance seine Ex nochmal flachzulegen) an keiner Stelle des Buchs auch nur erwähnt wird. Toll.


Mal grellbunt kalifornisch Psychedelisch, mal die düstere Kehrseite der Hippiezeit, die Gewalt und den zerstörerischen Exzess der Individuen und einer konsumkranken Gesellschaft. Eine Seite, die aber noch immer hell genug ist, dass man lachen kann, weil man es für möglich hält, dass Leute so reden oder sind wie in der Irrenanstalt für Reiche. Dass Leute so sind wie die verrückte Surfband von Volltätowierten, wie all die Knallis und sympathischen Spinner in diesem Roman, der davon handelt, wie die Welt mal verrückt, aber hoffnungsvoll war, bis sie noch verrückter wurde und die Hoffnung verlor. Das waren dann die 70er.