Joseph O‘Neill: Niederland, rowohlt, 315 Seiten

Anspruchsvoll, eigenartig, präzise und mäandernd zugleich. Dialogarm, aber voller kluger Gedanken. Handlung, die nirgends hinführt und doch vom Fortkommen im Leben erzählt. Wir beobachten wir durch die Augen von Hans aus Holland das Leben in New York, New Jersey, Brooklyn, das Treiben der Einwanderer, der Cricket Spieler, der Bänker und seines selbst. Ein Portrait der Stadt, das gerade durch seine Dichte bei gleichzeitiger Zerrissenheit dem Gefühl der Stadt wohl sehr nah kommt. Hans durchlebt eine Ehekrise, sie trennen sich und obwohl er Investmentbanker ist, hat er viel Zeit, die eigenartigen Geschehnisse eines Post 9/11 Sommers 2003 zu durchleben, die Stadt in seiner Selbstsuche ohne Suchbewegung zu erleben, die ihn irgendwann klar sehen lassen. 


Seine Frau hat N.Y. verlassen, um wieder in London zu leben, er bleibt, arbeitet, findet zu dem Spiel seiner Kindheit zurück: Cricket. Sie hat einen neuen Mann (das aber erst fast am Ende vom Buch ein Thema), die Szenen zwischen ihnen, die Stille und Sprachlosigkeit, die unterdrückte Wut und gleichzeitige Verstörung, wie das möglich war, was gerade geschieht, ist großartig beschrieben. Hans verbleibt in New York, im Chelsea Hotel, einem Mythos, wenn auch eher für Rock‘n Roll Ikonen und Irre, nicht für Investmentbanker wie ihn. Alles geschieht kurz vor und kurz nach Beginn des Irakkriegs, noch in den Schockwellen von 9/11 in New York, die wie ein Schatten da liegen, ohne dass diese Geschehen aber irgendetwas große Auswirkungen auf sein Leben haben. DAS hat seine Ehe nicht kaputt gemacht, eher vielleicht die Sollbruchstellen offengelegt. Hans pendelt an einigen Wochenenden nach London, um seinen Sohn zu sehen und verbringt sonst Zeit mit Chuck. Das ist auch schon die Geschichte. Am Ende, das darf problemlos verraten werden, kommen die beiden Eheleute wieder zusammen und die Starre und Unfähigkeit, das temporeiche auf der Stelle treten der Hauptfigur findet eine Bewegung im Raum, nicht nur in seinem Kopf. Und der erkennt in seiner Selbstbezogenheit die Mechanismen New Yorks für uns. Am Ende wird er den Sehnsuchtsort so vieler verlassen und zurückkehren. Ein Zurück, das ein Voran ist.


Die Triebfeder der Geschichte ist aber nicht die Ehekrise, nicht 9/11 oder der Irakkrieg, sie stellen nur den Hintergrund und die mentale, emotionale Grundierung von Hans in dieser Zeit. Sein Freund Chuck, ein Einwanderer aus Trinidad mit zweifelhaftem Ruf und Geschäften, aber irrer Energie und irrem Mundwerk und voller Ideen, er ist die heimliche Hauptfigur. Der ist wie wir gleich zu Beginn erfahren am Zeitpunkt da Hans erzählt (so etwa das Jahr 2006) tot. Ermordet. Das vielleicht das deutlichst romanhaft konstruierte Konstruktionsmerkmal dieses spannend fragmentarischen, aufschlussreichen, klugen, stellenweise schwierigen, aber nie schwer zu lesenden Buchs: Es muss ja laut all der Romanratgeber dieses „Geheimnis“ geben, das gleich zu Anfang gesetzt (Chucks Leiche wird gefunden) sich über die 300 Seiten zieht, den Spannungsbogen schafft.


Am Ende des Buchs wissen wir dann ganz viel von Chuck und dadurch auch über die zwei Jahre von Hans in New York und über die Stadt selbst. Unüberschaubar, wild, individuell, Geld-regiert, fremd und vertraut, bedeutsam und irrelevant, all die Lebensläufe und Ideen, Berufe und Verrückten, die Kommer und Geher und den seltenen Moment einer gemeinsamen Kristallisation: Zum Beispiel am 11.9.2001 oder später im Buch, bei dem Stromausfall. Aufgeklärt was den Mord angeht wird gar nichts. Und das ist dann auch zugleich wieder die Stärke: Dass das Buch das gar nicht nötig hat, weil es spürbar um ganz andere Dinge geht. Um einen Mann und eine Frau in der Krise in einer ganz bestimmten historischen Zeitpunkt in einem bestimmten Umfeld, und beeinflusst durch bestimmte Begegnungen und fremde Leben, die Hans anders denken und handeln lassen, an Orte führen, an die er nie gekommen wäre. Und dann gehen diese Menschen verloren, sterben, verschwinden, kommen abhanden, ohne dass das auf das eigene Leben noch Einfluss hätte. Und so ist auch New York.