Peter Ames Carlin: Bruce - Touchstone Simon & Schuster, 494 Seiten

Bruce. Oder vielleicht Bruuuuuuuuuuuuuuuuuce?! Grundsätzlich bin ich skeptisch bei Biografien, die nur den Vornamen des Künstlers als Titel tragen. Das ist oft ein Zeichen für nerdiges Fantum und/oder eine Hagiographie. Nicht dass ich etwas gegen nerdiges Fantum hätte, I can outnerd almost anyone, anywhere, anytime, zumindest wenn es um Springsteen geht. Nur bei Büchern brauche ich das nicht. Das Buch von Peter Ames Carlin ist trotzdem über weite Strecken eine Enttäuschung, aber dafür ist es auch in genau zwei Aspekten von Mr. Springsteen wirklich gut.


Zunächst mal zu Enttäuschung: Über Bruce Springsteen sind schon meterweise Bücher geschrieben worden. Es gibt Magazinartikel und veröffentlichte Interviews zuhauf, ja seine Interviews gibt es inzwischen sogar gesammelt in Buchform. Wenn ein Autor dann Zugang zum Künstler, zu den ehemaligen und aktuellen Bandmitgliedern hat und auch zu Springsteens Familie, besonders zu seiner Mutter und seinen Tanten, dann erwartet der Leser mit Recht eine Menge Neues und noch nicht Gelesenes und vor allem neue Einsichten. Das ist aber nur sehr eingeschränkt der Fall. Stattdessen trifft Carlin einige seltsame Entscheidungen. Die seltsamste: Das Buch hat, wenn man die Notes und den Index abzieht gut 460 Seiten. Davon widmet der Autor 330 Seiten der Zeit bis 1986. Das ist die Zeit bis einschließlich dem Megaseller Born in the USA und der anschließenden ausgiebigen Welttournee. Genau über die Springsteen-Karriere bis dahin ist aber natürlich bereits am meisten geschrieben worden. Das Buch reicht bis ins Jahr 2012. Warum Carlin den 26 Jahren danach sowenig Raum gibt,  ist nicht zu verstehen. Hinzu kommt, dass er der Erzählung über Springsteens Karriere als Recording Artist vom Debütablum „Greetings From Asbury Park, N.J.“ bis zum Weltphänomen „Born In the USA“ nichts hinzufügt. Wer über diese Zeit etwas wissen will, für den ist Clinton Heylins „E Street Shuffle. The Glory Days of Bruce Springsteen & The E Street Band“ das wesentlich interessante Buch.


Ein weiterer Schwachpunkt von Carlins Buch ist, dass er sich nie so richtig entscheiden kann, was für eine Art Buch er schreiben will: einen Karrierebericht, einen Essay über die Musik oder über die gesellschaftliche Relevanz von Springsteen. So macht er von allem ein bisschen und nichts wirklich befriedigend.

Ok. Genug gemeckert, nun zu den beiden Stärken des Buchs. Richtig interessant wird es immer, wenn sich das Buch mit der Familiengeschichte von Springsteens Eltern und Großeltern beschäftigt. Da machen sich ganz offensichtlich die vielen Gespräche bezahlt, die Carlin mit Springsteens Mutter Adele (geborene Zerilli), deren beiden Schwestern und anderen Familienmitgliedern geführt hat. So entsteht ein Familienbild, das weit zurückreicht. Und die schwierige Beziehung, die Springsteen als Jugendlicher und als junger Mann zu seinem Vater Douglas hatte, bekommt neue Quellen und wird plausibel – und wer schon mal auf Springsteens Texte geachtet hat „Adam Raised a Cain“, „Growing Up“, „Independence Day“ etc., weiß, dass sie verdammt schwierig war. Darüber hinaus ist die Geschichte der Familie Springsteen mit dem depressiven Working-Class-Vater und der gebildeten Mutter, die eigentlich ganz andere Möglichkeiten hatte, einfach aus sich heraus interessant.


Der zweite interessante Aspekt entsteht durch die Gespräche mit den Mitgliedern der E Street Band, die sich vor allem im letzten Drittel des Buches immer wieder um das schwierige Verhältnis dieser Begleitband, Backing Band, Tour Band - ja was eigentlich genau – zu ihrem „Boss“ dreht. Das kreative Gleichberechtigung in diesem Verhältnis keine Rolle spielt, war schon immer klar und wird hier aber in vielen neuen Facetten deutlich. Diese Innenansicht, die mit der üblichen „Wir-sind-alle-Buddies“-Musikerheuchelei nichts zu tun hat, ist sehr lesenswert. Selbst Clarence Clemons gibt kurz vor seinem Tod im Juni 2012 zu, dass er zwischendurch das Gefühl hatte, als Mitglied der E Street Band immer alles gegeben aber manchmal nur wenig zurückbekommen zu haben. Die Verbitterung über die Zeit Ende der Achtziger als Springsteen, die Band für ein Jahrzehnt praktisch auflöste, ist selbst so viele Jahre später noch spürbar. Die spürt man auch bei anderen Mitgliedern – besonders bei Danny Federici (gestorben 2008) und Garry W Tallent der  Street Band. Trotzdem ist immer klar: Alle wissen, dass der Erfolg von Bruce Springsteen und der E Street Band nur möglich war, weil der mal mehr mal weniger gutmütige Diktator mit der Gitarre genau so ist, wie er ist. Welcher Künstler ist schon erfolgreich, weil er so ausgeglichen ist? Springsteen kann man es auf jeden Fall als Pluspunkt anrechnen, dass er diese Offenheit seiner Band nicht unterdrückt. Eine Band die sich seit März 2012 auf einer Art Neverending Tour befindet, His Bobness lässt grüßen. Auf der Bühne passt dann zwischen Bruce und die „heart-stopping, pants-dropping, house-rocking, earth-quaking, booty-shaking, Viagra-taking, love-making – Legendary E Street Band“ (so stellt Springsteen die Band auf der Bühne vor) kein Blatt Papier. Nach über 40 Jahren Bandgeschichte weiß eben jeder, einschließlich des Boss, was er am anderen hat. Auch der Boss ist nur der Boss, weil er der Boss der E Street Band ist.


Steffen Wagner