Ralf Rothmann: Im Frühling sterben, suhrkamp, 234 Seiten

Für mich eine der besten zeitgenössischen deutschen Autoren. Und das nicht nur weil er eine Ruhr-Berlin Biografie hat, wie ich selbst, oder weil seine Geschichten eben immer an diesen beiden Herzensorten spielen. Spielten - bis jetzt. Rothmann schreibt schnörkellos, unaffektiert und so gar nicht schreibschulglatt oder avantgardehaschend. Er erzählt Ort, Figur, Zeit und Handlung und das passt zusammen und schafft einen Raum, der lebt und strahlt. Es geht oft um Jungs und Männer auf der Suche, um harte Eltern, immer um Liebe und Prägung, manchmal um Künstler oder Autoren. Die straighten Erzählungen und Romane funktionieren, ohne dass sprachliche Genauigkeit (im Gegenteil!) und Schönheit und Sprachlust zu kurz kämen. Aber bei kaum einem deutschen Autoren von heute fügt es sich so unaufgeregt und zugleich aufregend zusammen.


Junges Licht, sein 11 Jahre alter Roman, wird gerade von Adolph Winkelmann mit Charly Hübner in einer der Rollen verfilmt. Danach werden mehr diesen Autor lesen, den komischerweise auch im Ruhrgebiet, das immer so stolz auf seine wenigen Autoren ist, nur Eingeweihte kennen. Er tritt selten auf und nie im Fernsehen und gerade hat er seinen Verlag gebeten, sein gefeiertes neues Buch nicht zum Deutschen Buchpreis nominieren zu lassen. Der Mann ist lässig und weiß längst, was er kann. In einem Interview im Jahr 2000 sagte Rothmann: „Sobald ich nicht über meine Erfahrungen schreibe, fange ich an, bodenlos und ziellos zu fabulieren. Dann verliert meine Sprache einfach ihre Schwerkraft, fängt an zu flattern und spricht auch keinen mehr an.“


Und um so erstaunlicher ist dieses neue Buch, das alle Feuilletons und auch mich begeistert. Es fabuliert nicht, sondern erzählt nah und echt und direkt. Und dabei ist es der erste Roman, der nicht in Berlin und nicht im Ruhrpott spielt, und auch zeitlich weit von den persönlichen Erfahrungen des Autors entfernt sein dürfte. Stattdessen langlangher und zuvor von wirklich ALLEN Seiten und vielen Autoren bereits beleuchtetes Thema: Zweiter Weltkrieg.


Durch einen Prolog, der nicht so heißt und unmerklich vor dem Hauptgeschehen erzählt wird, stirbt in den 80er Jahren ein ehemaliger Bergmann stumm und still ohne seinem Sohn je vom Krieg erzählt zu haben. Warum er das lieber nicht getan hat, aber trotzdem nicht zu den Persilschein geweißten Ex-Nazis gehörte, deren Schweigen für ihre zukünftige Karriere oder das Aushalten der Schuld besser war, das erzählt dieser Roman - nur kurz in Deutschland, dann vor allem in Ungarn, wo ein junger Ex-Ruhrgebietler, jetzt Melker im Norden im letzten Kriegsjahr für die Waffen SS zwangsrekrutiert wird. Ein junger Mann, einer von Millionen, in nur einem Jahr für immer verändert, ja, kaputt gemacht. Von den Zumutungen, vom eigenen Handeln zwischen Überlebenswille, Gewissensentscheidungen, Pflichterfüllung, Gruppendruck und Mord handelt das Buch - dabei nie in Klischee oder „schon 1000 mal gelesen/gesehen“ Gefahr.


Ich habe viele, sehr viele Kriegs- und Nachkriegsromane gelesen. Dieser, der so fern vom Berliner Nazihauptquartier, oder von Provinzfaschisten, oder den Bombennächten oder Auschwitz oder Generalstäben oder Verschwörern spielt, sondern gegen Ende des Krieges, irgendwo in Ungarn in der Etappe, wo Walter als Fahrer für die SS arbeitet, diese Buch ist eines der besten. 70 Jahre nach Kriegsende.


Die scheinbar knappe Story in seltsam erinnerungsfernem Raum in Ungarn genügt, um das System, auf dem der Krieg, die Truppe und das Denken fußt, zu zeigen und spürbar zu machen. Ein guter Text lässt dem Leser ja Raum zum Denken und Ergänzen, zwischen den Zeilen und an den Rändern und in seinem Ton. Dieses Buch ist ein genauer und dabei poetischer Roman, der die Zwischenzonen in sich trägt ohne wie andere über 800 Seiten alles erzählen zu müssen. Ein bisschen vielleicht wie in Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“ - wo das Grauen um die Handlung herum spürbar aber fast nie sichtbar ist, wo der Holocaust hineingreift immer wieder, die Geschichte antreibt, aber die Leichenberge am Ende nur als Zeichnungen und faktisch oder „tatsächlich“ nicht darstellbar zeigt.

Und so ist es da in diesem Roman, das vermeintliche „Hauptgeschehen“, der Untergang, Zwangsarbeit und Holocaust - aber ganz ohne SpiegelTV Täterschauder, den Führer in Farbe oder gar in Ken Follet Manier erzählt.


Gegen Ende, wenn statt Endsieg bloss endloses Saufen und Vögeln den Untergang begleiten, während Walter nach dem Grab seines gefallenen Vaters sucht bevor er seinen besten Freund töten muss, - da kommt einem durch das Buch ein Gefühl von „Wahrheit“ oder „echt“ so nah, wie ich es zuletzt bei Kertész im „Roman eines Schicksallosen“ (das ja auch z.T. in Ungarn spielt) empfand.


Im Frühling sterben ist ein wunderbares Buch - bitter und traurig und nah und so erzählt, dass der Leser immer weiß, was all das noch immer mit uns zu tun hat.


Christian Caravante