Antal Szerb: Reise im Mondlicht dtv 2007, 259 Seiten

Die Welt von Gestern


Das heute untergegangene Europa kurz vor dem Fall. Ein frisch verheiratetes ungarisches Paar geht auf Hochzeitsreise in Italien, die klassische Route des Großbürgertums auf den Spuren der Kunst- und Literaturgeschichte. Mihály und Erzsi wirken zunächst wie ein typisches jung verheiratetes Paar: diese Mischung aus Überschwang und Befangenheit der ersten gemeinsamen Reise - einer Reise ins gemeinsame Leben dazu.

Mitte der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts; beiläufig wird von Faschisten und Aufmärschen erzählt, über die Nationalsozialisten in Deutschland werden ein oder zwei Sätze verloren - die drohende Katastrophe ist aber noch weit. In Italien gibt es eine Regierungsform, die den beiden nicht ungewöhnlich scheint oder gar als bedrohlich betrachtet wird. Man ist an anderen Dingen interessiert.

Erzsi kennt sich gut aus in Italien, Miháli läuft eher hinterher zu all den Baedecker Höhepunkten. Da taucht unerwartet ein Bekannter von Mihály aus Jugendzeiten auf - und hernach gerät das junge Glück ins Wanken. Der phlegmatisch wirkende Mihály erzählt seiner Frau zum ersten Mal aus seiner bewegten Vergangenheit, von seiner Zeit als junger Mann im „Ulpius“ Haus, bei den Geschwistern Tamas und Eva, zwei Exzentrikern & Romantikern durch und durch, ein Geschwisterpaar, um das diverse junge Männer kreisen, die in Büchern und Theater und Kunst und Alkohol, Selbstmordversuchen und der großen Liebe versuchen, dem Leben einen Sinn zu entringen.

Die Liebe dieser Jungen und Mädchen ist platonisch und unglaublich ernst, wie es nur junge Menschen hinbekommen, die zugleich alles zu wissen glauben und dabei vor allem von Gefühlen und vermeintlichen Idealen geleitet werden.


Nachdem Mihály die Geschichte erzählt hat in einer durchwachten Nacht in Ravenna, steigt er auf der folgenden Weiterreise aus dem Zug, eigentlich nur um einen Kaffee zu trinken, aber in einer freud‘schen Fehlleistung danach in den falschen Zug ein. Das Paar ist getrennt und wird es für immer bleiben. Die für Mihály nun nicht mehr zu bändigende Frage nach dem Verbleib von Eva Ulpius, die er vorgab nie geliebt zu haben sowie dem Schicksal ihres Bruders, außerdem all die abhanden gekommen Freunde wie das abhanden gekommene Lebensgefühl treibt Mihály quer durch Italien und fast in den Tod. Seine Frau Erzsi zieht es von dieser scheiternden Hochzeitsreise nach Frankreich in ein Leben jenseits aller Konventionen.


Das Buch erinnert an Stefan Zweigs „Welt von Gestern“ und den Film „Zimmer mit Aussicht“. Es atmet die Sehnsucht nach einer Zeit, deren Ganzheit nicht mehr herzustellen ist - nicht für uns Leser, nicht für den suchenden Mihály.

Der Weg des Paares wird getrennt voneinander erzählt. Nach surrealen Passagen, in denen Mihály nach seinem Ausstieg aus dem Zug durch Italien irrt und immer weiter in Wahnvorstellungen, Krankheit und Verlorenheit absinkt, führt ihn die Suche ohne Ziel allmählich zurück zu den Menschen aus seiner Vergangenheit. Diese hat ihn nie losgelassen, so sehr er sich - mit der Heirat als Schlussstein - auch bemüht hat, allen Sturm und Drang abzuschwören und zum vernünftigen Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu werden.

Erszi hingegen landet in Paris, wo sie ebenfalls auf einige Ungarn aus Mihálys Vergangenheit und einen geheimnisvollen Perser trifft. Sie lebt fortan nach dem Motto,“ Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“.


Szerb doziert in all dem Tumult beginnender, zerbrechender Lieben, der Rückschau und allem VoranVoran der Zeit noch über kulturelle und religionswissenschaftliche Themen, beschreibt Kunstwerke und Städte, Milieus mit solch beeindruckend lebendigen Figuren und Präzision bis in die Nebenstränge, dass man die vorhangdunklen Wohnzimmer, die Gassen italienischer Altstädte, die Stiegenhäuser der billigen Absteigen und Teppiche in mondänen Hotels geradezu riechen kann. In dieser Welt werden noch richtige Briefe geschrieben, nein: formuliert, hier haben die Worte nicht den Sinn Stille zu füllen, sondern Bedeutung und Konsequenzen. All die prallen, tragischen, driftenden Leben gleiten wie Blätter im Sturm der Zeit vorüber. Für den Leser von heute natürlich immer mit dem Wissen um das baldige Ende dieser Kultur, der Zerstörung von Orten und Milieus und Normen sowie dem millionenfachen Tod, den auf schrecklich banale Weise auch der jüdische Autor Szerb erlitt, der 1945 von einem KZ Aufseher erschlagen wurde.


Für die beiden Hauptfiguren endet die Geschichte schließlich, dort wo sie begann: in der alten Heimat Ungarn beim Versuch erwachsen zu tun und sich den Regeln ihrer Klasse zu unterwerfen. Nur nicht mehr zusammen - sondern jeder für sich. Schon wenige Jahre später dürften die beiden sich nach dem Leben gesehnt haben, dem sie so lang zu entkommen versucht hatten: Eine Welt mit Klassengrenzen, strenger Ordnung und religiöser Moral zwar, eine Welt jedoch auch mit Gewissheiten, Routinen, Anstand und Respekt, die sich als „europäische Zivilisation“ empfand. Wie ging bald unwiederbringlich in einer weltlichen Apokalypse verloren.

„Und solange man lebt, weiß man nicht, was noch passieren kann.“ Das ist der grandiose letzte Satz dieses Buchs. Und danach ist es auch egal - möchte man ergänzen.