Richard McGuire: HIER, Dumont, 300 Seiten

Immer denkt man, das aktuell grandiose Buch ist das Buch des Jahres. Glücklich ja sowieso, wer den mittelmäßigen und langweiligen Lektüren entkommt. In diesem Jahr habe ich schon drei solcher Offenbarungen lesen können. Wunderbar, klug, sprachlich so einzig und bewegend, dass man abwechselnd schaudert, die Tränen kommen oder man einige Minuten lang nur aus dem Fenster sieht. Also solche Bücher, weswegen man überhaupt mal angefangen hat Bücher zu lieben.


Und dann gibt es Bücher, die sind wie die Seeigelcreme mit rotem Roggen und Blattgold, die ich in Tokio vor ein paar Jahren aß, die sind SO anders und unfassbar gut, dass der Geschmack oder die Erinnerung an die Lektüre, es für immer unvergesslich macht: immer wieder wird man es lesen oder im Regal streicheln (nein, ebooks können das nicht, wie überhaupt ebooks diese Erinnerung an ein Leseerlebnis als Memo im Regal nicht schaffen können, die gestoßenen Kanten von der Reise oder die unleserlichen Notizen am Rand - ebooks sind nur Mietgaben). Von solchen Büchern stehen bei mir vielleicht 15 - nein, eher 10. HIER wird sich daneben gesellen.


Eine Graphic Novel ohne Romancharakter, ein Comic ohne eigentliche Handlung, eine philosophische Abwandlung über das Leben ohne mehr als nur einen Raum zu zeigen und das Leben darin. Wie ein Rezensent schrieb, „so ein Buch gibt es nur einmal im Jahrzehnt, wenn nicht im Jahrhundert“. Keine Ahnung, ob man sowas sagen kann, ohne gleich 100 Einschränkungen geografisch, kulturell und stilistisch zu machen. Aber ich würde sagen ja, das stimmt.


Aber ist auch egal, denn dieses Buch bewegt und packt und bricht mit allen erzählerischen Konventionen und narrativen Regeln, mit Chronologie oder auch nur dem Versuch eine Deutung, ein Erfassen oder Verstehen nahezulegen. Dabei ist es aber kein hermeneutisches Gedicht oder komplex oder verkünstelt - im Gegenteil, es zeigt nur was passiert ist, Schlaglichter in den Jahrmillionen (!), erklärt nichts, verklärt nichts. Und es ist schön, klug und, ja, wahr. Leben in seiner wunderbaren Banalität und Endlichkeit, in der Schönheit des Moments, dieser Weisheit,  allesamt Momente, die schon am nächsten Tag vergessen sein können und doch in Summe so etwas die Essenz des Lebens sind. Also ganz anders als der Glamour und Rockstarruhm, den man sich vielleicht als junger Mensch erträumt, die vielen Lieben und Abenteuer, die man erhofft oder die große alles überstrahlende Liebe, die gelingen soll.


Hier werden die Generationen, die waren und kommen werden (es gibt Szenen von vor 2 Millionen und in 500 Jahren), in einem Moment erfasst und verschwinden mit dem Umblättern, werden flüchtige Erinnerung. Ob Streit und Liebe, politischen Momente, Zerfall und Geburt - alles findet in einem Raum, an diesem Ort statt. Eine bekannte Fantasie dieses „wenn diese Wände sprechen könnten“. Der Raum in HIER, eine Stelle von 50 Quadratmetern in New York im Lauf der Jahrtausende, er kann es. In fester Kameraperspektive wie in den James Benning Filmen blättern wir durch die Jahrmillion.


Die Ereignisse sind so willkürlich wie allgemeingültig, ein Drama ohne Anfang und Ende und doch spürbar die Wahrheit in der Summe der sich immer mehr überlagernden Menschen, Hoffnungen, Gedanken und Pläne und Ereignisse - ein Ort, ein Haus, eine Familie, ein Leben in Generationen. Auch hier bleibt nur ein ein staunendes Aufblicken, eine Träne ein überwältigtes Innehalten - und doch ist das Buch so wenig zu fassen wie das Leben, das es erzählt. So good, so right, so great.


CC