Gumpert/Tucai (Hrsg.) Ruhr.Buch, dtv, 288 Seiten

Dass in einem Buch über das Ruhrgebiet so unterschiedliche Autoren wie Goethe, Grönemeyer, Ricarda Huch, Ernest Hemingway, Helge Schneider sowie eingefleischte Regionalisten wie Thomas Bernhard (Österreich), Heinrich Böll (Rheinland), Bert Brecht (Berlin) (mit Kürzest-Texten zum Ruhrgebiet) zu Wort kommen ist Beleg für die Schwierigkeiten einen anspruchsvollen literarischen Überblick über das Ruhrgebiet zusammenzustellen. Das aber sollte in "Ruhr.Buch - Das Ruhrgebiet literarisch" geschehen.


Der ewige Goosen und der ewige Helge sind neben dem 80-jährigen Josef Reding und dem Märchenonkel Dirk Sondermann von 50 Autoren die einzigen, die auch im Ruhrgebiet leben. Sie sind eine Minderheit, neben der anderen Minderheit in diesem Buch über das Ruhrgebiet: weibliche Autoren. Davon gibt es genau drei.

Aber auch von den teilweise viele hundert Jahre verblichenen Autoren lebten die meisten im Buch versammelten nie dort oder zogen weg. Das scheint das Schicksal des literarischen Ruhrgebiets zu sein: Dort aufwachsen, wegziehen und ein paar romantische Erinnerungen an den Pott mitnehmen, diese eventuell aufschreiben. Oder eben der Blick von Außen.


Wiederkäuen der Klischees

Die Schwierigkeit namhafte Autoren aus der Region zu finden, die wissen, was heute im Ruhrgebiet geschieht, schlägt sich auch inhaltlich nieder: denn nach der zehnten retrospektiven Beschreibung des „hart aber herzlich“ Humors, von Taubenzüchtern, der faszinierten Schilderung skurriler Schäbigkeit der Ruhr-Städte, ihrer Kneipen voller Skatspieler, ist bei mir der Klischee Overkill erreicht. Kindheitserinnerungen an die die Buden und Bolzplätze, Schichtwechsel und sich drehenden Schachträdern und so weiter, und so fort…- das hört nicht mehr auf.


Kein Wunder, dass das „neue Ruhrgebiet“ in den Köpfen außerhalb der Region nicht ankommt und noch immer jeder Besucher als erstes sagt: „Mensch ist das grüüüüüün hier“. „Jaja, schon länger“, möchte man antworten. Dieses Buch schwelgt literarisch in den guten, alten Zeiten, die es in dieser Reinform vermutlich auch nicht gegeben hat.


Wer sucht, der findet

Die Zusammenstellung im Buch beweist: Wer sucht, findet genau, was seit Jahrzehnten „Ruhrgebiet“ für die meisten bedeutet. Und weil es noch kein neues Image gibt, brüht man halt das alte wieder und wieder auf.

Der einleitende Böll Text verherrlicht den Dreck, das Grau und die gesundheitsschädlichen Schlot-Panoramen des Ruhrgebiets der 60er geradezu und setzt damit auch den Ton für das gesamte Buch.


Ob allerdings anpackende Ehefrauen, Kinder, die an der Bude Wundertüten kaufen, ungeschlachte Typen mit dem „Herz am rechten Fleck“, ein Leben zwischen Grauputz, Siedlungshäuschen und Schrebergarten, ob all diese immer wieder auftauchenden „Typen“ in diesem Buch wirklich ein Privileg des Ruhrgebiets sind, wage ich stark zu bezweifeln. Als Beleg reicht eine einzige Reise nach Mannheim, Gießen, Kassel, Darmstadt, Hannover oder Ludwigshafen. An all diesen Orten findet man ähnliche Klischeefiguren, eine respektable Schäbigkeit der Innenstädte, triste Vororte, beigefarbene Rentnerherden sowie sicher auch Momente von „Erhabenheit“ in einer schäbigen Pils-Kneipe um drei Uhr Morgens, wenn sich ein paar Typen um Kopf und Kragen reden.


Ruhrgebiet 2.0


Die rückwärtsgewandte Orientierung der Texte führt automatisch zu einer Vernachlässigung der Gegenwart - es ist so, als wenn den Autoren zu diesem Ruhrgebiet 2010 nichts einfiele.

Ein Aspekt dieser Gegenwart - auch schon länger - ist zum Beispiel der hohe Ausländeranteil in der deutschen Gesellschaft mit allen ihren Vorzügen und Nachteilen (auch das kein Ruhrgebietsphänomen, aber immerhin ein gegenwärtiges und hier sehr altes). Von dieser Wirklichkeit ist ebenfalls nichts in dem Buch zu finden. Stattdessen wird urdeutsches Kohle&Stahl, Pommes&Fußball und Schrebergartenglück&Arbeiterkampf endlos wiedergekäut und mit dem „Echt RUHRPOTT“ Stempel versehen. Gähn! Einwanderungsgeschichten, Begegnungen zwischen den Kulturen in den letzten 40 Jahren? Nichts.


Lasst die Vergangenheit vergehen

Fazit: Die Herausgeber wollten, dass das Buch sich verkauft - ein legitimes Ziel. Darum haben sie viele bekannte Namen aufgenommen, auch wenn Autoren wie Hemingway oder Thomas Bernhard in ihrem gesamten Leben vielleicht 20 Zeilen über das Ruhrgebiet geschrieben haben. Die finden sich nun in dem Buch.

Die Herausgeber haben weiiiiiiiit zurückgeschaut und das „Ruhrgebiet“ auch dort gefunden, wo es noch gar nicht existierte: im Nibelungenlied oder Dichtung des 19. Jahrhunderts. Geschenkt! Warum aber kaum zeitgenössische Autoren aus der Region, warum so wenig zeitgenössische Texte über die Region, warum ein Peter Rühmkorf fehlt, warum so wenige weibliche Autoren aufgenommen wurden, warum von Migration in dieser davon stark veränderten Region nichts auftaucht, bleibt ihr Geheimnis.


Dieser Sammelband ist ein Buch darüber, wie das Ruhrgebiet vielleicht mal war (und es viele scheinbar gern auch noch hätten), ein Buch über die altbekannten Bilder und Geschichten „aus'm Pott“, seit Jahrzehnten konserviert.

Wie es in der Region heute ist, was neben den bekannten Pott-Klischees an Widersprüchen und erzählenswerten Geschichten existiert, wo die Eigentümlichkeiten von Kultur, Mentalität, Arbeit und Restleben in dieser längst veränderten Region liegen, davon erfährt man rein gar nichts.