Rana Dasgupta: Solo, Blessing, 464 Seiten

Ein indischer Schriftsteller schreibt durch eine hundert Jahre alte, blinde Figur, die auf den deutschen Namen Ulrich hört die europäische Geschichte von 1905 bis heute nach. Von der Peripherie her, aus Bulgarien, wo Ulrich lebt, nachdem er als Kind mit Vater und Mutter durch halb Europa reiste.


Vater war Eisenbahnbauer, glaubte an das Verbindende für den Kontinent, bis die trennenden Ideologien, Kommunismus und Faschismus und später der Krieg das Leben bestimmen sollten. Nach 230 Seiten ist man am Ende von Ulrichs Leben angekommen, zu dem gehörte, dass er nicht Musiker werden durfte, obwohl er großes Talent hatte, in Berlin Einstein traf und später Chemiker wurde, Leute kannte, die Revolutionäre waren, sich verliebte und ein Kind bekommt (mit die schwächsten Szenen im Buch) und den Rest seines Lebens in einer Fabrik arbeitete, unter dem Kommunismus litt und irgendwann nur noch in seiner Wohnung Experimente betreibt. Es hätte ein grandioses Leben werden können, wenn, ja wenn nicht...die Geschichte anders gelaufen wäre.


Ab Seite 230 entwirft dieser blinde Ulrich aus seiner schäbigen Wohnung in Sofia aus mehrere andere Leben mit Versatzstücken seines eigenen, die irgendwann auch in Amerika spielen. Der Klappentext des Buches jedenfalls lügt, weil es wohl einige Szenen in N.Y. gibt, das aber, wie auch die meisten anderen Spielorte, keine Rolle spielt. Denn die Figuren bleiben flach und eindimensional, egal vor welchem Hintergrund, die Referenzen an das „wirkliche Leben“ der Figur, die man suchen könnte, schaffen keine Spannung. Und von den kulturellen Unterschieden, dem Sound der Städte, dem Lebensgefühl, Sofia in den 60ern, Berlin in den 20ern, N.Y. in den Nuller-Jahren spürt man nichts, weil die Figuren so selbstbezogen und schablonenhaft sind. Die Musik spielt eine große Rolle im Buch, sie ist das emotionale Ventil aller Figuren, die Sehnsucht und Lust finden sie dort und immer geht es auch um Verbote Musik zu hören oder zu machen. Aber auch da hört man die Figur von klassischer Musik bis Ethno und HipHop und Zigeunermusik schwadronieren und - es trägt nichts zum Verständnis der Figur bei.


Jedenfalls wird in diesen Vortod-Fantasien von Ulrich ein Junge, der Ulrichs Sohn sein könnte, ein gefeierter, genialer Musiker, der die Plattenindustrie Amerikas rettet, es gibt eine heisslbütige, gewalttätige, schöne Frau, die Sex in die Geschichte bringt, einen Musikproduzenten und einen depressiven bulgarischen Dichter, der sich umbringt, Bruder der schönen Frau.

Warum einen diese zweite Lebensgeschichte, trotz Crime&Sex und RocknRoll interessieren soll, ist mir nicht klar. Vielleicht wenn man die Verzweiflung und das Scheitern des Ulrich als schmerzlich empfand. Alle einzelnen Geschichten dieser Figuren klingen jedoch wie Treatments für kleine Romane, die dann zusammengeschnitten und ein wenig aufgeblasen wurden. Es gibt immer wieder auch Versatzstücke im Buch, „Elemente“ genannt, da werden einfach Szenen (vermutlich aus dem Notizheft des Autors) skizzenhaft ohne Dialog zwischengeschaltet um anzudeuten, es ist noch mehr passiert.

Die Sprache des Buches ist meist eindimensional, viel zu auserzählend, von einigen schönen, dichten Szenen abgesehen. Inhalt und Form erzählen zugleich alles und lassen mich doch unberührt und desinteressiert.


Natürlich kann jeder Autor über alles schreiben, Männer über Frauen, Leute des 21. Jahrhunderts über das Mittelalter und ein Inder über europäische Geschichte aus der Sicht eines Bulgaren. Aber ich wurde beim Lesen das Gefühl nicht, los, dass all das nur angelesen und recherchiert klang, Orte, Sprachen, Musik und natürlich auch die Figuren, ich hatte nicht das Gefühl in diese Zeit, an diese Orte zurückzureisen. Diese "Forrest Gump" oder "Benjamin Button" Geschichte (ein Mann, ein Jahrhundert und seine Wirren) ist mir zu konstruiert und gewollt.


Ein typischer Debut Roman vermutlich: sehr hochgegriffen und am  Thema (auf ausreichendem Niveau) gescheitert. Ein Satz vieler Autorenratgeber an Anfänger ging mir beim Lesen nicht aus dem Kopf: Immer über das Schreiben, was man kennt.

Und auch wenn das nur eingeschränkt stimmt, sonst könnte ja jeder nur über sich selbst schreiben und meist das noch nicht mal, gelingt so ein Buch vielleicht eher einem erfahrenen Autor.


Diese Geschichte auf 200 Seiten verdichtet und ohne all das postmoderne Fragment-Gemache, sprachlich prägnanter, es wäre ein schönes Debut geworden.