Jonathan Gottschall: Storytelling Animal, Houghton 247 Seiten

Geschichten sind nicht nur universell, sie sind Ausweis unserer Menschlichkeit und haben seit der Mensch spricht (und später schreibt, filmt...) die Funktion, zu lehren, zu rückversichern, Traditionen weiterzutragen, sich die Welt zu erklären und vor allem: zu unterhalten und sich bewegen zu lassen. Gottschall zeigt, dass „storytelling“ so ziemlich alle Bereiche es Lebens von Familie, über Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, die Liebe, die eigene Biographie und natürlich Träume, Bücher, Filme, Spiele und sogar Kampfsportarten und wie darüber berichtet wird, umfasst.


Gottschall findet meist sehr schöne Beispiele wie unser Hirn Geschichten einfach folgen MUSS, wie es sich verführen lässt, ja wie es sogar in einem vollkommen abstraktem Geschehen nach Mustern sucht um eine Geschichten zu bauen: auf einem Bildschirm bewegen sich zwei Kreise und ein Dreieck um ein Quadrat mit Eingang. Einer der Kreise scheint bedroht zu werden von dem Dreieck, flüchtet, bekommt Hilfe usw. Am Ende mein man eine Geschichte von Liebe, Eifersucht, Gewalt und sogar Geschlechterverhalten zu erkennen - ohne Körper, ohne Gesichter, ohne Stimmen. Kein Wunder also, dass Verschwörungstheorien so begeistern, ängstigen und beruhigen zugleich: Weil sie in einer hyper-komplexen Welt Erklärungen und Zusammenhänge aufzeigen (die nicht da sind, aber eine gute Geschichte sind: 9/11 war ein Inside Job, Schatten auf einem Bild zeigen, dass da gar kein Flugzeug war usw.) In sich kohärent sind diese Geschichten, aber nur unter Auslassung vieler, vieler anderer Informationen aufrecht zu erhalten. Und: Paranoia von Psychopathen udn die Fantasien von Verschwörungstheoretikern sind nur graduell, nicht grundsätzlich verschieden. Muster, universelle Muster die alle kulturellen Grenzen überschreiten stecken in Geschichten von der Bibel über Liebesgeschichten und Gut gegen Böse.


Kinder leben in Neverland, spielen Geschichten jeden Tag, erklären sich die Welt und üben für später - so Gottschalls These. Ihr Durst nach Geschichten und ihr Drang selbst welche zu spielen ist enorm und lebenswichtig. Als Erwachsene ist dieses Verlangen nicht grundsätzlich anders, wird nur anders befriedigt. Wir lassen uns auch weiter von Geschichten bewegen, vielleicht nicht durch Elfen und Zwerge, aber wenn Leute schreien, kreischen, zusammenschrecken während sie im Kino einen Horrorfilm sehen, wird deutlich: Wir haben Neverland nicht verlassen.


Das Buch ist locker geschrieben, streut immer wieder kleine Narrationen ein, um zu belegen wie leicht wir uns verführen lassen, wie unser Hirn Auslassungen selbst ergänzt und selbst die rudimentärste Geschichte lebendig macht. Gottschall erzählt auch von Hitler und behauptet der sei durch Wagners „Rienzi“ erst zu DEM Hitler geworden, weil er sich DORT seine seine Vision von Größe und Macht geholt habe, die er sein Leben lang in Wirklichkeit verwandeln wollte.

Natürlich werden Onkel Toms Hütte, Werther oder 1984 als aufklärerische Romane bemüht, die einen Zeitgeist trafen und offenbar die Weltsicht vieler - allein durch eine Geschichte - ändern konnten. Aber auch von Aliens Entführte glauben an ihre Geschichte, offensichtlich falsche Autobiographien werden SO geschrieben, weil die Autoren in ihrem Leben alle Widersprüche und Zufälle und Fehler glätten, dass am Ende eine Geschichte rauskommt. Das wohl auch der Grund, warum wir selbst bei Krankheiten, Trennungen, Katastrophen glauben wollen, sie könnten positive Effekte haben, irgendwann, für irgendwen. Eine Art Happy End Fanatismus, der alle Lebensbereiche, nicht nur Hollywoodfilme durchzieht. Unsere Erinnerung ist ein äußerst unzuverlässiger Pool von Geschichten. Gottschall gibt zahlreiche Beispiele, wie viel wir uns einbilden, bis hin zu ganzen Geschehnissen, die nie passiert sind, von denen wir aber felsenfest glauben, sie erlebt zu haben.


Gottschall macht nur einen großen Fehler in diesem Buch: er will ALLES seiner Theorie unterordnen und ist zu verfälschenden, teilweise lächerlichen Vereinfachungen von sehr großen, breit und tief erforschten Bereichen gezwungen. In einem Absatz erläutern, warum Freuds Traumtheorie Unsinn ist oder wie Religion funktioniert, warum Jungs so und Mädchen anders sind (und andere Geschichten mögen), wie unser Hirn funktioniert (als wenn wir das auch nur annähernd wüssten), warum Historiker wie Howard Zinn nur Gegenmythologien schaffen (als wenn die eine, herrschende die einzig mögliche wäre) - das muss man schon vermessen nennen. Er erklärt Dinge, die nicht in seine Theorie passen zur Ausnahme und verwendet zum Teil abenteuerliche Begründungen.

Für ihn hat (die These beats it all!) Literatur, die nichts „erzählt“ keinen Wert und sprachliche Experimente wie von Joyce sind nur für „English professors“ interessant, weil „nichts passiert“. Überhaupt könnte man ihm eine gewisse Intellektuellenfeindlichkeit (jedenfalls was High Art betrifft) zur Last legen, die doch nach Minderwertigkeitskomplex oder enttäuschtem Professor einer Provinzuni riecht.


Gottschall überdehnt seine grundsätlich schöne These, wenn er behauptet, Geschichten würden aus uns bessere Menschen machen oder Geschichten seien, DIE verbindende Kraft des menschlichen Lebens. Wo er Recht hat: Geschichten sind überall. Aber man könnte anstelle von „Geschichten“ auch sagen, der Wunsch nach „Sinn“, die Lust auf „Flucht“, der Wunsch nach „Größe und Macht und Geld“, oder die Sehnsucht nach „Kontrolle und Überblick“ kurz nach einem Zusammenhang und Zugehörigkeit - einem menschlichen Bedürfnis, über das schon Bibliotheken von Soziologen, nicht von Englisch Profs wie Gottschall gefüllt wurden.


Die meist wohlwollenden, aber auch sehr bösen Rezensionen