Tom Hillenbrand: Drohnenland, KiWi, 423 Seiten

Wie passend, diesen großartigen Krimi gleich nach George Orwells 1984 zu lesen! Ein Zufall, der zwei sich gegenseitig ergänzende, ja verstärkende Bücher erzeugt. Hillenbrand wählt eine Mordserie und eine politische Verschwörung als Plot, erzählt entlang eines aus der Zeit gefallenen Philip Marlowe Kommissars mit Trenchcoat über die Gesellschaft der Zukunft. Orwell setzt in seiner Zukunftsvision auf die Erzählung einer tragischen Figur und tragischen Liebe in einem Überwachungsstaat, wie er damals als Perfektionierung von Faschismus, Maoismus, Stalinismus denkbar erschien. Orwell erzählt wenig Handlung und viel Hintergrund und Erklärungen zu Sprache, System und Ideologie.

Tom Hillenbrand lässt die allermeisten Erklärungen und langatmige Beschreibungen von technischen Detail auf gelungene Weise einfach weg: Wir werden als Leser in diese Wirklichkeit unserer möglichen Zukunft geworfen: Holland ist abgesoffen im Klimawandel, die arabische Halbinsel nuklear verseucht, Europa abhängig von Solarstrom aus Nordafrika, weshalb der Magreb wieder besetzt wurde wie zu Kolonialzeiten, langer Krieg gegen Rebellen inklusive. Europa ist zwar noch immer kein Bundesstaat, aber nah dran. Der mächtige Kommissionspräsidentin ist eine Türkin, die Briten wollen gern raus aus der Union, das reichste Land ist Portugal, weil dort mit Wellenkraftwerken viel Geld zu machen ist. Süditalien ist von der Union abgetrennt worden und erscheint heute wie dann zugleich als anarchischer aber zugleich Sehnsucht weckender Raum voller Freiheit und „echtem“ Leben. Kein Wunder, dass der Roman dort endet. Wie offenbar Aldous Huxley über seine „Brave new world“ sagte, können Science Fiction Fantasien nur so lange fesseln, wie der Leser glaubt, sie könnten wahr werden. Für dieses Buch wird das eine ganze Weile gelten.


Der Alltag von Kommissar Westerhuizen und allen EU Bürgern wird durch Drohnen und allerlei vernetzte Technik überwacht wie erleichtert. Visionen, zu denen Orwells Fantasie noch nicht reichte, aber unsere heutige gar nicht sehr bemüht werden muss: Specs trägt jeder: Brillen, die alle Informationen in Echtzeit servieren: Wer ist der Typ mir in der U-Bahn gegenüber, wo ist der nächste Falafel Laden und alle Sprachen und Handbücher der Welt. Autos fahren natürlich von allein, auch sie untereinander vernetzt. Bürger werden anhand ihrer Datenspuren aufgespürt und analysiert. Wie bei Minority Report werden so auch Verbrechen verhindert, weil der Master-Computer die Wahrscheinlichkeit einer Straftat anhand der digitalen Vorgeschichte (Datenkorona) und des aktuellen Verhaltens einer Person berechnet, die dann präventiv festgesetzt wird. Leider auch keine totaler Irrsinn, weil genau an solcher Software derzeit gearbeitet wird: Wie kann ein Programm auffälliges Verhalten in einer Gruppe erkennen und mögliche Täter identifizieren, bevor sie etwas tun können?


Orwells Big Brother ist mobil: Drohnen machen alles, liefern Pizza, töten und zeichnen durchgehend und umfassend alle Daten von allem und jedem auf. So groß wie Kleinwagen bis so klein wie Staubkörner können sie auch in Räumen sein, in denen man vermeintlich sicher ist. Diese Welt aus Gadgets lernen wir kennen, während Westhuizen ermittelt. Ein Mann, der Casablanca liebt und Humphrey Bogart und dessen 2D Welt befragt, wenn er nicht weiter kommt. Westerhuizen untersucht den Mord an einem EU Abgeordneten. Bald wird klar, dass es noch mehr Morde gibt bis das Ganze größere Kreise zieht und irgendwann Geheimdienst und Großkonzerne umfasst, die über Leichen gehen. Sehr spannend, sehr vorstellbar. Sehr klug erzählt.


An Westerhuizens Seite die geheimnisvolle und hübsche Analystin aus Israel (auch in der EU) Ava, die ihm bei der Auswertung der Datenmengen hilft und (zunächst, natürlich) als Gegner ein im verborgenen agiernder Journalist, der Korruption und Allerlei Dreck in der EU aufdeckt und auch dem Kommissar entscheidende Hinweise liefert, die den aber fast das Leben kosten werden.

Ava und der Journalist, genau wie Westerhuizen und einige ausgewählte Personen bewegen sich derweil nicht nur in der analogen Welt, sondern auch im „Mirrorspace“: Ein Ort wie die Innenwelt des Rechners bei Tron, nur ohne Neonästhetik, sondern mit „echter“ Landschaft, Stadt oder Innenraum. Errechnet wird die Parallelwelt, indem die Umgebungs- und Bewegungsdaten sämtlicher Drohnen, aller elektronischen Geräte, der Datenbrillen erfasst und in einem Raum in 3D Form gespiegelt werden. Dort hinein kann man in eine Art Schlaf versetzt gehen und bei einem Verbrechen gewissermassen dabei sein - Berechnungsfehler und Manipulation inklusive.


Eine packende Geschichte. Geradeaus ohne viele Klischees erzählt. Am Ende ein wenig zu sehr um totale Auflösung und (Teil)Happy End bemüht vielleicht, aber insgesamt auch nicht unwahrscheinlicher, als die Welt, in der wir leben, betrachtet aus der Welt unserer Großeltern. Und einiges bleibt sowieso immer gleich: Geheimdienste tun, was sie wollen. Regierungen manipulieren Daten und verschleiern Absichten. Überwachungsdaten sind angeblich geschützt, können aber natürlich in Gänze ausgewertet werden und werden das auch - von Fahrten, über Krankengeschichte, Mails, Telefonate, Gespräche bis Mittagssnacks und Kaufhistorie.


Beim Lesen erscheinen aktuelle Nachrichten  - Briten stimmen über Austritt ab, ISIS besitzt Uran, Google Datenbrille kommt, Lieferdrohnen von Amazon getestet, Totalüberwachung von Innenstädten zu unserer aller „Sicherheit“, umfassende Kommunikationsdatenspeicherung durch NSA bis Computer-Hijacking - wie die Overtüre zum Leben in Hilenbrands Drohnenland.

Wachsam macht dieses Buch und entführt in eine Wirklichkeit, die es zu verhindern gilt. Oder?