Julie Orringer: Unter Wasser atmen, 286 Seiten

Was für ein Mut! Direkt nach ihren wirklich tollen Kurzgeschichten in diesem Buch hat die Autorin nun ihren ersten Roman mit 832 Seiten vorgelegt - seltenst ist ein Verlag  bereit bei einem Erstling über die üblichen 300 Seiten hinauszugehen. Doch hier war man sich offenbar sicher. Weil eben die Kurzgeschichten in „Unter Wasser atmen“ so schön und präzise und dicht sind. Weil man spürt, diese Autorin könne über sehr viel mehr und breiter erzählen. Die hier versammelten Erzählungen könnten leicht auch Teil eines größeren Werks sein oder Ausgangspunkt für ein solches werden.


Die insgesamt 9 Geschichten handeln zum größten Teil von Kindern oder Jugendlichen an einem bestimmenden Punkt ihres Lebens. Die erste Liebe, die erste peinliche Katastrophe, der Highschool Wahnsinn, der Tod. Große Themen ganz im kleinen. So bei der wunderbaren Geschichte „Was bleibt“ in der eine Tochter ihre krebskranke Mutter beobachtet, wie sie in Disneyland von ihrer ersten Jugendliebe Abschied nimmt, in gewisser Weise vom Leben an diesem bizarren Ort Abschied nimmt. Diametral gegenläufig sind die Gedanken der Menschen die wissen, sie sterben und derer, die glauben, noch ewig zu leben.


Ebenso in „Der ebenste Weg ist voller Steine“ geht es um den Tod. Eine Mutter hat ihr Kind verloren und die Tochter wird zu den jüdisch-orthodoxen Verwandten aufs Land geschickt. Dort passt sie sich den Gebräuchen an, aber zusammen mit ihrer Cousine bietet ein Buch über sexuelle Praktiken doch auch den Einblick in eine ganz andere, als die orthodox geregelte Welt, in ganz andere Gefühle und Wünsche, die wiederum gegenläufig sind, zu den Regeln und Geboten der Religion, die sie gerade für sich als Regeln zu akzeptieren lernt. Man ahnt aber bereits, dass sie ihr nicht erhalten bleiben werden.


In vielen der Geschichten gibt es gegenläufige Bewegungen beziehungsweise Bruchpunkte: ob das Weitergehen oder Zurückbleiben von Tod und Leben, der Aufbruch von der Kindheit ins Erwachsenenalter, die Erfahrungen der Ausgrenzung und des Dazugehörens. Letzteres gelingt großartig in der Geschichte „Ratschläge an ein Sechstklässler-Ich“, in der durchgehend im Imperativ von den Grausamkeiten erzählt wird, wie Jugendliche anders oder fremd erscheinende Gleichaltrigen oder solche, die sie herausgepickt haben, antun. Da wird ein Abschlussball zur Frage über Leben und Tod - zumindest gesellschaftlich.


Auch wenn alle Geschichten im Mittelklasse Milieu der USA spielen, die menschlichen Momente, sei es Befremden den Eltern gegenüber, der Knacks zwischen besten Freundinnen, die Entdeckung der Sexualität oder die Erkenntnis, dass die eigenen Eltern sterblich sind, kennt keine kulturellen Grenzen.


Die selbstverständliche Bösartigkeit, die Energien, die junge Menschen darauf verwenden, wie irgendjemand zu wirken, der sie nicht sind, oder dumme Dinge tun, nur um zu einer Gruppe dazuzugehören, erzählen diese Geschichten. Wie auch die zwei Universen des Lebens: das der Eltern und des Elternhauses, die Regeln und die Gewissheiten und die Liebe dort. Und da draußen der Sturm, wenn der junge Mensch beginnt an der Welt teilzunehmen und sie für sich allein zu erobern. Nur um festzustellen, dass man eben dort auch sehr allein ist ohne Mama und Papa und die Dinge, die man dachte.