Jiro Taniguchi: Vertraute Fremde, 410 Seiten

Eine Graphic Novel, also Roman und Comic in einem ist das. Das Buch entwickelt den Sog eines Krimi, obwohl es nur etwas aufzuklären gilt, das lang vergangen und sich (wie die Hauptfigur Hiroshi feststellen muss) nicht mehr ändern lässt. Es ist eine Familiengeschichte und ein Traum.


Der Einstieg ist toll: frustrierter End-Vierziger pennt im Zug ein und erwacht in seiner alten Heimatstadt. Er geht vorbei an seinem alten Elternhaus, das längst verkauft ist, seine Mutter tot, der Vater seit 35 Jahren verschwunden. Er geht durch die kleine Stadt, in der er aufwuchs und entdeckt so wenig von sich dort, dass es ihm bange wird. Zugleich wachen die alten Erinnerungen. Wir kennen das alle: mit dem Blick zurück, gleicht man das gegenwärtige Leben auf seine Relevanz ab, schaut auf die alten Träume und Vorstellungen als junger Mensch und sieht, was aus einem geworden ist. Man denkt an die erste Liebe und wie es sich heute anfühlt, 20 Jahre verheiratet, als Vater und 14 Stunden-Tag-Arbeiter in einem Büro. Da kann man schon mal nostalgisch werden.


Was aber Hiroshi passiert ist zugleich Traum und Befürchtung und wurde so ähnlich auch in manchem Hollywoodfilm schon erzählt: Er schläft ein am Grab seiner Mutter und erwacht im Körper eines 14-jährigen in der Zeit von damals. Mit dem Wissen und den Erfahrungen des 35 Jahre älteren. Er kehrt heim zu seiner Familie, die damals noch existiert und erlebt, das, was man als Jugendlicher nicht begreift: eine glückliche Familie. Er betrachtet gewissermaßen zum Leben erwachte Fotografien von sich selbst mit dem großen, fast traumhaften Unterschied, dass er etwas ändern kann, weil er weiß, was er weiß. Jetzt kann er richtig hinsehen, die Gespräche führen mit dem Vater, der Mutter der Großmutter, die er als Jugendlicher nie geführt hat. Es müssen immer erst die Eltern sterben, bevor die Kinder anfangen Fragen zu stellen.


Hiroshi spricht viel, verliebt sich in die Klassenschönheit, ist sportlich und hellwach. Der 48 Jährige, der er war verschwindet bald hinter dem pubertierenden Jungen, der nun wieder ist. Ein geradezu wahnwitziges Experiment über die Frage: was ist von dem Menschen noch übrig, der wir mal waren und was für ein Mensch wäre man, könnte man mit dem Wissen von heute, das Leben von damals nochmals leben. Und die entscheidende Frage für Hiroshi: Kann er verhindern, dass sein Vater die Familie verlässt.


Hiroshi findet viel heraus über seine Eltern, er kann sein schlechtes Gewissen ein wenig bekämpfen, indem er seiner Mutter der Sohn ist, den sie sich wünschte. Er sieht die Anfänge seiner Schwester und erkennt ihren späteren Weg. Er sieht Talente in seinem besten Freund, die der noch gar nicht kennt. Was diesen aber erst dazu bringt, sie auszuleben und es zu versuchen: Schriftsteller werden. Was er nicht ändern kann: Sein Vater wird den Bruch vollziehen, die Familie verlassen, nachdem er ihr 19 Jahre mit voller Kraft gedient hat. Hiroshi erkennt, dass er in seinem Leben als 48 Jähriger auf dem gleichen Pfad unterwegs war. Bis ihm die Zeitreise passierte.


Ein berührendes Buch über die Unmöglichkeit, das Leben zu verstehen, in dem Moment, in dem es geschieht. Gezeichnet in unaufgeregten Bildern, ruhig und fast meditativ. Absolut gelungen.