Julian Barnes: Vom Ende der Geschichte, Kiepenheuer & Witsch 182 Seiten

Eine Hoffnung, ein Anfang, ein großartiges Buch zu Beginn des Jahres: Barnes beschreibt in knapper, klarer Art ganz unprätentiös die Irrungen und Wirrungen von Tony, einem 60 Jahre alten,  bis dato zufriedenen Mann, dessen Leben durch eine Begegnung mit seiner Vergangenheit umgekrempelt wird.


Seine Fehlurteile und Selbstlügen, seine „friedfertige“ Art, die er selbst als Feigheit erkennt. „Wir hielten uns für reif, dabei gingen wir nur auf Nummer sicher.... Wie oft erzählen wir unsere eigene Lebensgeschichte? Wie oft rücken wir sie zurecht, schmücken sie aus, nehmen verstohlene Schnitte vor? Und je länger das Leben dauert, desto weniger Menschen gibt es, die unsere Darstellung in Frage stellen.“

Tony hat sich ein „Ich“ basierend auf falschen Annahmen und Behauptungen konstruiert, er gab 4 Jahrzehnte den Rationalisten und erkennt, dass er doch nur immer reagierte und alle Neugier und Wünsche den „Umständen“ unterordnete. Seine Verluste scheinen ihm nicht geschadet zu haben - bis er begreift, was wirklich damals geschah.

Am Ende wissen wir nichtmal, ob das behauptete gute Verhältnis zu seiner Tochter, wirklich existiert, ob er und seine Frau wirklich so entspannt auseinandergingen, ob seine Freunde (von denen er keine mehr hat) wirklich einfach „abhanden kamen“ - weil ein Fehlurteil nach dem anderen offenbar wird: Zum Selbstmord seines ehemals besten Freundes und den Ursachen dafür, zu seiner damaligen Freundin, ihrem Verhalten, dem Verhalten ihrer Eltern ihm gegenüber, und dem des Bruders und seinem Standesdünkel. Die ganze Beziehung zu ihr könnte ganz anders abgelaufen sein, als Tony uns im ersten Teil des Buches erzählt, auch sich erzählt hat. Er schildert den cause&effect, den sein Leben scheinbar vorgab, den er wie wir dann zu einer Biografie zusammenschrauben, die uns beruhigt.


Die Erzählung beginnt mit Reflexionen über die eigene Geschichte, und dass Erinnerung genannt wird, aber mit Fakten so gut wie nie etwas zu tun hat. Ein kluger Autor schrieb: Wenn man es erzählen kann, ist es gewiss nicht so gewesen.

Und so erfahren wir zunächst Tonys Jugendjahre mit Veronica, eine schwierige, aber wichtige Beziehung, die endete, als die beiden zusammen Sex hatten - nach Monaten. Nicht wegen dem Sex, sondern eher, weil es zu spät dafür geworden war. Sagt Tony. Sie kommt dann später mit Tonys bestem Freund Adrian zusammen - was Tony 40 Jahr später als „in Ordnung“ abgespeichert hat - bis er einen Brief von Veronica bekommt, den er ihr und Adrian damals geschrieben hat: Voller Hass und Verachtung, voller Verwünschungen, die Tony mit sich und dem, was er glaubte gewesen zu sein, einfach nicht zusammenbringt.


Da sind wir schon mitten im zweiten Teil des Buches. Der Dekonstruktion von Tony durch Tony. Die Kontakte zu Veronica, deren Mutter Tony „zwei Schriftstücke“ vererbte, bleiben geheimnisvoll und kühl - ohne dass wir oder Tony erfahren warum. Kapitel für Kapitel wird in großartiger Verschränkung von Gestern und Heute, von Gedachtem, Erlebtem und Reflketiertem klar, wie sehr wir in Person von Tony in der Lage sind, uns selbst und die Wahrnehmung unserer selbst zu schützen durch eine kohärente Erzählung von dem was „aus unserer Sicht“ geschah oder gerade geschieht.

Annahmen, darauf basierend Handlungen und dann wieder Annahmen und Handlungen - die allesamt falsch sind, wenn schon die erste Annahme falsch war. Das ganze nennt man Leben, das schließlich nicht mehr ist als eine Erzählung, nur meist nicht so spannend wie in diesem Roman. Ein Buch voller klarer Einsichten und fast Weisheiten: „Wenn man jung ist, will man, dass die eigenen Empfindungen so sind, wie die, von denen man in Büchern liest. Mann will, dass sie das ganze Leben umkrempeln... Später will man... etwas Praktischeres: Sie sollen das Leben unterstützen, so wie es ist und geworden ist. Sie sollen dir sagen, dass alles in Ordnung ist.“ Sicher ein Buch für Ü40 Menschen, die genau wissen, welche Lügen man sich schon erzählt hat in all den Jahren, während die Jugend weiter dabei ist, sich aus den Selbstbildern und -konstruktionen ein Ich zu schaffen.


Gleich nochmals lesen, so gut!