Don Delillo: White Noise, picador, 326 Seiten

Es geht um den Tod in allen Formen. Auch der Form des Lebens des Todes. Ja, komplex und kompliziert. Delillo hat hier einen Roman geschrieben, in dem es vor Zeichen nur so wimmelt, Symbole, Analogien, Metaphern und Versteck- wie Verwirrspiele des Todes. Und eine Satire auf das akademische Leben und das der liberalen Mittelschicht.


Aber dieser ironische, manchmal auch bitter Blick auf Amerika, damals noch führend in seinem kulturellen Einfluss, trägt auch viel Zukunft in sich, viel Jetzt. Das Fernsehen in seiner grotesken Überzeichnung der Wirklichkeit, um die Zuschauer mit Themen von Gewalt, Angst und Sex (die alle verwandt sind) bei der Stange zu halten, die Produkte, die wir ALLE kaufen sollen, um unser Jetzt zu rechtfertigen, unserem Sein Sinn zu geben und zu vergessen - das war alles auch ohne Internet und Handy schon da, man könnte sagen, das alles war schon angelegt.

Die groteske Welt der Wissenschaft, die mit verrückten Disziplinen und Studien, die Welt genauso überzieht, wie die Konzerne sie mit sinnlosen Produkten, sie wird auch noch abgehandelt, wie die Kritik an Medien und dem ewigen Zerreden der Dinge.

Das Buch spielt in einer ländlichen Stadt, in der an einer kleinen Universität obskure Wissenschaften blühen, wie die Professur für „Hitlerstudien“, die die Hauptfigur als Beruf gefunden hat (inklusive eines notwendigen Looks: schwarze Brille und ein bestimmter Habitus, um sich zu einer Marke zu machen).  Sein Kollege und irgendwie geisteskranker, kluger Freund forscht unter anderem über Elvis Todeswunsch und die Autounfälle in Hollywoodfilmen und was sie uns über das Sein und die Welt erzählen. In einer genialen Szene umkreisen sich diese beiden in einem Vortrag vor Studenten und werfen mit all den Bruchstücken von Wirklichkeit um sich, der sie dann Zusammenhang und Bedeutung geben, um ihren Vorstellungen Grundlage zu geben. So funktioniert ein Roman, aber so funktioniert auch Wissenschaft. Die letzte setzt noch ein paar Fussnoten. Das ist der einzige Unterschied.


Die Hauptfigur Jack lebt in einer Patchworkfamilie, viele Kinder, aber bis auf das jüngste aus anderen Ehen und Beziehungen von sich und seiner Frau. Seine Angst vor dem Tod hat er geheim gehalten, lebt seine Obsession ja in gewisser Weise auch in seinem beruflichen Leben, wenn er sich mit der Monströsität der Nazis beschäftigt, lebt sie auch im Angesicht seiner Kinder, um die so bemüht ist, durchlebt sie dann mit der Familie, als ein Chemieunfall geschieht und alle evakuiert werden in ein Camp. Dort wird der Sohn zu einer Art Propheten des Untergangs, er selbst erfährt über ein Regierungsprogramm, das seine gesamte Gesundheitsgeschichte kennt und statt eine Übung für eine Evakuierung zu simulieren, diese tatsächlichen Vorfall als Übung nutzt. Schon Karrikatur dieser Vorfall, wenn aus einem Waggon eine dunkle Wolke entweicht und Roland Emmerich mässig Hubschrauber sie bekämpfen, angeblich Organismen sie von den Rändern her auffressen sollen und das ganze Debakel natürlich aus einem geheimen Regierungsprogramm stammt.

Was gut zum Tod passt, ist auch,  dass Jacks Frau die geheimnisvolle Droge Dylar schluckt, von der wir irgendwann erfahren, sie mindere die Angst vor dem Tod. Auch hier mag der Leser Anklänge an die Pillenverrückten Amerikaner, die Prozac Nation sehen. Um die Pillen schlucken zu dürfen steigt Jacks Frau mit einem durchgeknallten Wissenschaftler in einem schäbigen Motel ins Bett, den Jack hernach umlegen will (eine weitere Form des Todes, Mord), mit einer Waffe seines Schwiegervaters. Er schiesst auch, aber es kommt anders.


Streckenweise unglaublich dicht, vollgepackt mit Querverweisen auf die Konsumwelt, die akademische Welt, das Fernsehen und seine Methoden, auch mit Luft-Anhalte-Momenten, wenn er von Männern erzählt, die Flugzeuge kapern und ins White House steuern (das Buch ist von 1984), von Waren und Produkten berichtet, die die ganze Welt durchdringen, von Talk Radio, dass den Leuten nichts als Angst einjagt, von einem Leben mitten in Amerika, das total isoliert von der Welt und den Nachbarn stattfindet. Dazu die Angstindustrie im Fernsehen, die ein Jahrzehnt später mit George W. Bush auch einen politischen Arm fand, mit dem sich ein ganzes Land in einen Krieg und zur Aussetzung der Bürgerrechte (für bestimmte Menschen) bringen ließ.


Überhaupt: Das Buch mutet manchmal wie ein Manifest an, auf dessen Grundlage Michael Moore seine Filme macht, die ebenfalls so grotesk und doch wahr scheinen. Ein Buch, das damals in der Hochzeit dessen, was man Post-Moderne nannte die Mechanismen postmoderner Literatur durchspielt: Überall Zeichen, keine Wahrheiten, ein Plot, der nur in der Sammlung von Zitaten und Blickwinkeln besteht, eine Orgie der Laberei und vermeintlichen Erklärungen von allem und jedem und dem Wissen, das dieses alles und jedes zusammenhängt. Eine Botschaft die zugleich vielstimmig und verwirrend und doch eindeutig ist: Wir werden sterben, aber in dieser Welt will keiner daran denken, weil er dann die Welt würde ändern wollen und das, nun, das ist eben genauso unmöglich, wie das ewige Leben. Also fröhlich konsumieren und kompensieren, unterdrücken und vorbeischauen, Erklärungen abgeben, die so viel Halbwertszeit wie Zigarettenasche im Wind haben, die Kinder großziehen, essen, schlafen, vögeln. C‘est la vie.