Zoltán E. Erdély: Wie sag ich‘s meine Mutter - Das enteignete Selbst

suhrkamp, 138 Seiten

Was bei der Serie „In Treatment - Der Therapeut“ vorgeführt wird ist der auf eigenartige Weise spannende, dabei vollkommen ohne Handlung, nur durch Worte, Interpretationen derselben und Assoziationsketten hervorgerufene Prozess, wie ein Mensch (der Patient) im Gespräch mit einem anderen (der Therapeut) zu Entscheidungen und Handlungen und Verhalten und vor allem Fühlen in seinem Leben findet; kurz zu einem „Selbst“, das seinem Empfinden und seinen Wünschen (die allerdings auch irreleitend sein können) entspricht. Unterscheiden sollte man dabei zwischen einer „inneren“ und einer „äußeren“ Realität, die am besten im Einklang sind, aber dies durchaus nicht immer sind (zum Beispiel die Bedrohungsgefühle des Neurotikers, oder die Schuldgefühle des Onanisten, die Ängste des einst alleingelassenen vor dem Alleinsein).


Es scheint so einfach:  dem Depressiven sagt man, lach doch mal, dem Essgestörten, iss doch einfach, dem Gefühle verleugnenden, auf sein Herz zu hören, dem Feigen eine Entscheidung zu treffen, beim Ängstlichen appelliert man an seinen Verstand, beim zwanghaft Ordentlichen an die Gelassenheit und immer so weiter. Dann müssen sie nur machen. Aber tun es nicht. Die Gründe für die inneren Widerstände aufzudecken und im besten Fall zu beseitigen, das ist Therapie. Die Menschen handeln aus einer lang gelernten Mechanik, gehorchen quasi nur ihnen vernehmbaren Befehlen von Innen und wurden, wie es Freud darlegte, dahingehend meist im Kindesalter bereits geprägt durch den Umgang mit Mutter und Vater. Wie sie selbst als Kind und junger Mensch in Konflikten handelten, wie sie Gefühle zeigten, wie sie Wünsche äußerten, wie sie das „richtige“ Handeln gegenüber der von ihnen „so erkannten“ Wirklichkeit begründen - das sind für Erdély die Gründe für psychosomatische und seelische Erkrankungen, viel Unglück und Depression, bis hin zu Gewalt und autoritären Staatsstrukturen.


Über die Entdeckung des „Selbst“ und dem Handeln nach seiner Sinnlichkeit und Gefühlswelt im Gegensatz zum Funktionieren und Gehorchen aufgrund des gesellschaftlichen, erzieherischen, religiösen oder ideologischen „Über-ich“, darüber schreibt Erdély in seinem Aufsatzband. Und auch wenn einen ab und an der 68er Wind der „nicht autoritären“ Erziehung anweht, wenn manche Schlüsse (das Über-ich erzeugt vom Neurotiker bis Faschisten und Kriegstreiber alles) doch etwas zu eindimensional und pauschal wirken, so dürfte das Buch nicht nur für jeden Analytiker und Therapeuten interessant sein, sondern auch für den an menschlichen Beweggründen interessierte Leser, oder solche, die etwas über den Sinn und die Methoden der Psychoanalyse erfahren wollen: Wer sagt warum was und wie wird das weiterverarbeitet und vor allem: warum soll das Reden allein jemanden wieder gesund machen? Kurz gesagt: weil er lernen soll, sich ganz im Sinne von Goethe mit sich selbst zu vertragen: „Ein bisschen schwer ists, sich mit sich selbst vertragen, und doch im Grunde das einzige woraufs ankäme.“


Und dazu bietet die Analyse, wie sie Erdély beschreibt, die Möglichkeit. Einen Raum und ein Gegenüber, der auch Mensch ist, nicht abgehoben allwissend, sondern dessen Gefühle und Gedanken eine Rolle spielen auf dem Weg durch den Dschungel der Assoziationen und Emotionen während einer Therapie.


Erdérlys Punchline ist die, dass die Ergründung und Befreiung des Selbst von den Zwängen des Über-Ich über eine Betrachtung des Verhältnisses des Patienten zu seiner Mutter geht. Nein, nicht der Vater, der doch in seiner sprichwörtlichen Distanz, Kühle und autoritären Erziehung verantwortlich sein soll für gefühllose Söhne, die Befehle brauchen und aggressiv sind und in der Verbindung auch Kriege treiben, sondern Kern ist, wie war es für die Mütter sind der Schlüssel zu den Problemen, die die im Buch besprochen Fälle in die Praxis des Autors führten. Wie erhält man ihre Aufmerksamkeit, wie zeigt sie ihre Liebe und wie fühlt und lebt man diese (lebenslange) Bindung in anderer Gestalt bei anderen Menschen oder bei sich selbst.


„Ein Löffel für Mama, einen für Papa“ ist dabei das wiederkehrende Bild, mit dem er den Gehorsam und die Erziehung zu Selbst-Verleugnenden Menschen illustriert. Erdély will den Patienten beibringen, für sich selbst zu essen, so viel, wann und wie sie wollen ohne Angst zu haben. Denn auch der  Bereich Schuldgefühle ist eng mit der Mutter und der körperlichen wie geistigen „Erziehung“ verbunden, sei es durch christliche Sexualmoral, oder indem ein Mensch sich vor den eigenen Wünschen fürchtet und nach Autoritäten ruft, um sich selbst und vor allem auch die Leben der anderen die Gefühle der anderen in Schach zu halten.

In diesem Sinne sind Kinder gefährliche Anarchisten, denen durch die Eltern das selbstbestimmte, gefühlsgesteuerte Handeln erst ausgetrieben wird, damit sie zu braven Kindern werden funktionieren und irgendwann doch reihenweise neurotisch, depressiv werden oder in dysfunktionalen Beziehungen leben und den Therapeuten die Praxen einrennen.


Erwähnt werden muss auch die Klarheit der Sprache Erdélys, selten nur mühsames Analytiker-Sprech, meistens dagegen prägnante Beispiele und klare Aussagen, sowie sehr interessant etymologische Erörterungen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Analyse, die ja nunmal über Sprache und Sprache allein funktioniert. Jederzeit wiederlesbar und immer wieder klug. Ein schönes kleines Buch und großartig geeignet als Begleitlektüre zur ersten Staffel von In Treatment.