Dirk Baecker: Wozu Kultur, kadmos 204 Seiten

„Kultur ist für alle gut“ - das könnte ein hohler Wahlspruch sein,. Und es passt. Denn nach der Lektüre dieses Buches meint man, Kultur kann alles und jeder haben, alles sein und auch durch allerlei Perspektiven beschrieben werden. Kultur kann eine Handlung oder künstlerischen Äußerung oder ein Verhalten sein, ein Code über Kleidung, Musik, Haarschnitt oder Körperschmuck, kann eine Subkultur wie einst Punks oder eine geschlossene Kultur im Regenwald sein. Die Piratenpartei ist genau so ein Kultur, wie die Freiburger Radfahrer, der Sprizz in Venedig oder die Gesichtspiercings der Yanomami oder die Art, wie ein Konzern, seine Mitarbeiterbüros bauen lässt oder Leute in der VHS Malen lernen.

Kultur wird heute alles bezeichnet, was Ausdrucksformen und Kommunikation hat oder hervorruft, was sich abgrenzt oder anbiedert, was sich auf etwas bezieht, das irgendwo etwas anderes bedeuten könnte oder sogar etwas bedeutet...


Bis vor ein paar Jahrhunderten - das zeigt  Baecker in dieser zum Buch gebundenen Aufsatzsammlung -  existierte Kultur als Begriff noch gar nicht. Erst in der Abgrenzung von den „unzivilisierten Völkern“ die die Europäer kolonisierten, enstand der Begriff und war zunächst auch nur in der Lage, in dem, was DIE sind und WIR nicht sind, auf sich selbst zu verweisen. Eine Definition über Bande.


Heute ist Kultur eine nahezu beliebig gewordene Bezeichnung für jede Haltung, Sprache, Geschichte, Selbsterzählung, für Umgangsformen, Musik, Ernährung oder Brillenstile, Weinumtrunk oder den Ablauf von Meetings in Großkonzernen oder die Form der Kommunikation von Teens im Internet.

Und so bemüht sich Baecker redlich in fast jedem dieser Aufsätze einer Definition von „Kultur“ näher zu kommen, was auch mal ermüdet, wenn er zum wiederholten Mal anhand der Lektüre von Kant, Parsons, Durkheim, Gertz, Weber und anderen durchspielt, was es denn sein könnte.

Man spürt aber den Wunsch (und auch die tatsächliche Fähigkeit), der Sache jedes mal ein bisschen näher zu kommen. Allerdings auch die Gewissheit, dass Kultur ein beweglicher, lebendiger, sich ständig Wandelnder Begriff ist, den man nie ganz und abschließend zu fassen bekommen wird.


Kultur meint in diesen Aufsätzen des Soziologen nicht nur typische Kultur wie Kunst oder Theater, sondern all die Formen, die eine Gesellschaft zur Selbstbestätigung, Reflexion oder Ausdrucksweise verwendet. Auf den ersten 50 Seiten ein wildes Anstreichen von Klugheiten und Treffern wie diesen:


„Kultur bedeutet, Gründe bereitzustellen, die es ermöglichen, das, was der eine feiert, vom anderen kritisieren zu lassen.... Eine Kultur stellt Interpretationsspielräume zur Verfügung, ein Gedächtnis der Gesellschaft mit Blick auf eine offene Zukunft“


Oder im Blick auf das historische Entstehen des Kulturbegriffs durch ein verändertes Bewusstsein:

„Deswegen setzen wir „Kultur“ in Anführungsstriche, entsteht eine Kultur überhaupt erst aus einem Kulturkontakt. Erst der Kontakt zwingt sie aus der Erfahrung des Fremden (wenn es nicht mehr einfach als barbarsich abqualifiziert werden darf) auf ein Eigenes zu schließen.“


„Man spricht von der Postmoderne, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Unterschiede, die in der „Moderne“ noch etwas bedeuteten, heute das Spielmaterial des Zitats von Bedeutungen ist“

Aus dieser Haltung werden ganze Ausstellungen wie die Documenta zusammengestellt. Auch heute noch, in der Post-Postmoderne der neuen Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit (angeblich).


Mit Kultur mein Baecker eben nicht nur Klassisches wie Malerei, Theater, Oper etc., sondern alles, das einer Gesellschaft die erwähnten „Interpretationsspielräume zur Verfügung“ stellt. Fernsehen, Politik, urbane Debatten um Wohnraum und Öffenltichkeit. Auch die Kunst: „Die Kultur liefert der Kunst das Publikum, aber das kulturelle Publikum sucht eher nach enttäuschungsfesten Erwartungen als nach jenen offenen Formen der Bearbeitung von Beobachtungen, die ihr die Kunst zu bieten hat. ... Die Kunstkultur greift nur das auf, was sich als Irritation bewährt hat.“


Mit solchen Sätzen analysiert Baecker punktgenau die Schwierigkeiten unangenehmer künstlerischer Äußerungen Publikum zu finden, Gelder und Gehör. Die Gegenkultur, Off-Kultur und Avantgarde leidet gegenüber dem Etablierten, Gewohnten und vermeintlich Bekannten und Sicheren, das von Fernsehen bis Stadtteater, von Neoimpressionismus bis Zitat vom Zitat vom Zitat Rockattütde so viel abgeschmackte Kunst durchzieht, das die Leute aber „schön“ finden, oder „interessant“ oder schlimmstenfalls „nett“.


So gäbe es noch sicher 50 tolle, kluge Sätze zu zitieren, die aber zum Teil aus endlosen Definitionen von Begriffen und Lektüren erwachsen, die für Kulturwissenschaftler und Soziologen interessant und lehrreich sein mögen, für den kulturinteressierten Nicht-Wissenschaftler aber allzu sehr mit Details oder Formeln arbeiten. Von der „Kultur der Kultur“ handeln, die man kurz begriffen zu haben glaubt, bis Baecker wieder einen Begriff entdeckt, der noch nicht hinreichend durchanalysiert ist.

Davon ab: Ein anspruchsvolles, forderndes, absolut lesenswertes Buch mit 10 Aufsätzen über Kultur und wie wir sie verstehen, wie sie funktioniert, wie sie sich begreift und wie wir sie begreifen.


Auch die Mühen der „Kulturpolitik“ und die Bevorzugung bestimmter „kultureller Äußerungen (siehe oben, das Konsumierbare, Erwartbare, Bekannte, Beruhigende) gegenüber dem Ungemütlichen, Fordernden, queren und kaputten, wird verständlicher. Auch wenn‘s manchmal mühsam ist, Denken und Zweifeln und in Frage stellen schadet nicht.