Andrej Longo: Zehn, 154 Seiten

Das neapolitanische Tourismusbüro, Bürgermeister und Co dürften dieses Buch nicht gerade beworben haben. In zehn kurzen Stories fasst es nämlich die Klischees und Schreckensbilder zusammen, die man von Neapel hat. Und das Buch macht sie lebendig wie eine Dokumentation. Andrej  Longo wird sich daher als echter Neapolitaner den gleichen Vorwürfen der „Nestbeschmutzung“ ausgesetzt sehen, die auch Roberto Saviano trafen, als er in „Gomorrha“ aufschrieb, was in Neapel passiert. Eine Stadt mit großen sozialen Problemen, eine Stadt voller Leben und Geschichte und Traditionen, aber auch eine Stadt, die viel zu lange schon an der Krankheit Mafia, Korruption, politischer Unfähigkeit, selbstverständlicher Gewalt, brennendem Müll und Selbstgefälligkeit leidet - und doch eine Stadt, die nie sterben wird. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt man. In Neapel scheint die Hoffnung längst gestorben, doch die Leute machen trotzdem weiter.

Da ist das Mädchen, das eine heimliche Abtreibung machen muss, weil der Vater...., da ist der Afghanistan Soldat, der zu kämpfen gelernt hat, was in Neapel wie in Kabul tödlich enden kann, da ist der Dienstags-Ehemann und der gierige Sänger, der ikarushaft zu hoch hinauswollte, da ist der junge Mann der nur mit seiner Freundin ausgehen will und dann...


Als Gegengift zu dieser deprimierenden Lektüre könnte der großartige Film „Passione“ von John Turturro dienen, weil er die leidenschaftliche, lebendige, lebensbejahende Musik vorführt, die auch in und von Neapel lebt - genau wie die „normalen“ Leute, die meist nur sich und ihre Familie im Blick haben und gewissermaßen stille Beobachter des Drecks sind, in dem die Stadt steckt. Leider werden sie auch so Teil des Systems.

Die im Buch erzählten Leben, die tägliche Kriminalität und Gewalt, das System aus politischem und kulturellem Machogehabe, aus Katholizismus, Körperkult und Korruption finden mitten in Europa statt - nicht in einer Favela in Rio, nicht in den Slums von Manila, nicht an den Rändern von Mexiko Stadt. Das ist das einzig Besondere.


„Zehn“ beschreibt skizzenhaft die Unausweichlichkeit, mit der Menschen, meist junge Menschen, in den Sumpf gezogen werden - ob sie wollen oder nicht. Wenn sie mit 14 schwanger werden, wenn sie Verbrecher spielen und zum Mörder werden, wenn sie der Stadt zu entkommen versuchen, wenn sie schön singen können und gern Drogen nehmen. Denn wenn jede Geschäftstätigkeit, jeder Ruhm oder simple Tätigkeiten wie einen Wagen zu parken oder in die Disco zu gehen, bedeuten kann, Teil des Systems zu werden, dann gibt es kein Entkommen. Nur wer Geld hat, kann entkommen. Wie man aber an Geld kommt dort - nun....

Da kann man eigentlich nur abhauen - wäre da nicht trotz allem die Erdverbundenheit, der Stolz und die Liebe der Neapolitaner zu ihrer Stadt, zur Familie, zu ihrer Kultur. Eine Kultur, zu der die mafiösen Strukturen und der Glauben an die Unveränderbarkeit dieses Systems inzwischen genauso gehören, wie die Bucht, der Vesuv und die Sfogliatelle.