Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage - Notizen 2008-2001, suhrkamp, 639 Seiten

Tagebücher mit „Ich habe heute das und das gemacht und gedacht und gefühlt“ sind in Ausnahmefällen interessant. Dann, wenn sie von Persönlichkeiten sind und sich aus diesen Gedanken Rückschlüsse auf Weltlage und Entscheidungen ziehen lassen. Oder manchmal bei Autoren und Künstlern, weil dort ihr Leben, ihre Ideen auftauchen, oder sogar bei „einfachen Leuten“, deren Klugheit in schwierigen, historischen Zeiten eine andere Perspektive eröffnet.

Ansonsten bedeutet Tagebuch nicht selten im schlimmsten denkbaren Sinn Nabelschau, larmoyante oder wahlweise egozentrisch-eitle, dazu noch unredigierte und von der Zeit oft nicht gereifte, sondern stark angefressene Gedanken.


Sloterdijk nennt sein Buch nicht Tagebuch und es ist auch nur in den seltensten Momenten eines: Und dessen ist er sich bewusst, wenn er mehrmals schreibt „Wäre ich ein Ereignis Tagebuchschreiber, würde ich….“

Manchmal ist es aber selbst bei ihm ein bisschen Innenschau. Dann, wenn er über kranke Freunde schreibt, über Kollegen, oder seine geistige Leere auf einer Konferenz schildert. Wobei letzteres schon übergeht in den Bereich Berufsbeschreibung und fast allgemeingültig wirkt.


Meist ist „Zeilen und Tage“ eine Mischung aus klugen, mal witzigen, mal behind the scenes, mal hochgeistigen, mal banalen, mal offenherzigen, mal verkopften Gedanken, Notizen und Sentenzen über Geschehnisse, Bücher, Orte, Menschen, die Wissenschaft, das eigene Schreiben, die Medien und das eigene Leben als Peter Sloterdijk, der Autor und Philosoph. Und wegen dieser Mischung ist es großartig immer wieder zu lesen, zu blättern und wird es wohl auch dann noch sein, wenn die erwähnten Ereignisse, lange vergangen sind. Die Gedanken darüber altern nämlich nicht so schnell wie Nachrichten.


Erste Erkenntnis: Sloterdijk fährt viel Rad, sogar Berge rauf. Mit Zwischenstops an Weingläsern natürlich. Und er liebt die stillen Momente am frühen Morgen, einfach mal Alleinsein. Außerdem überraschend: Er kann sehr witzig sein. Und dann noch: Er liest immer und überall - aber NIE Romane.


Wer nicht über eine Basiskenntnis in Philosophie (oder zumindest von den großen Namen mal hörte) verfügt, wer die Geistesgeschichte in Frankreich und Deutschland in den letzten, sagen wir 60 Jahren nicht in Ansätzen kennt, wird ein wenig Mühe haben: Ob es um Rousseau oder Hegel oder Sloterdijks Lieblingsmann Fichte geht, ob um Luhmann oder die Kritische Theorie, Marcuse oder Hannah Arendt - vieles sind kleine Spitzen und Lektüregedanken, Feinheiten aus der Welt der Philosophie, die dem kenntnisreichen Philosophen in ihrem Urteil einleuchten oder Widerspruch hervorrufen mögen, bei den Nicht-Philosophen aber wohl eher „Aha.., ist das so? Interessant“ als Reaktion bewirken. Dennoch macht das Über-Autoren zu lesen hin und wieder auch Lust den Autoren selbst zu lesen. Und natürlich erzählt eine Kritik oder Zustimmung immer auch etwas über den Denker Sloterdijk.


Vieles in diesem Buch sind Notizen zu Vorträgen, Nebengedanken zu Reden oder eigenen Buchprojekten. Man kann viel lernen über das Geistesgebäude diese Mannes und gegebenenfalls auch hier die Lektüre beginnen.

Man kann auch einfach über die Ausführungen zu Hegel und Fichte hinweglesen und nur beeindruckt sein von den scheinbar allumfassenden Kenntnissen Themen, die PS so drauf hat, die er oft locker wegzitiert oder in einen Gedankengang über, sagen wir, Peer Steinbrück oder die Wirtschaftskrise oder Lance Armstrong so einflicht.

Goethe taucht immer wieder auf, aber nicht als Lichtgestalt, sondern als wunderlicher alter Mann mit Fähigkeiten und blinden Flecken. Seine Maximen und Reflexionen sind dem verwandt, was Sloterdijk hier macht. Und so finden sich kurze Sentenzen, Aphorismen, Zweizeilenanalysen von Geschehnissen, Ritualen, medialen Ereignissen und Sport. Witzige Zitate, kluge Zitate, Minibeobachtungen mit Mehrwert usw.


Am Schönsten ist das alles dann: Wenn er, beim Schreiben damals offenbar fern von Veröffentlichungsdruck oder auch nur Absicht, so vor sich hindenkt: Es kommen klar formulierte, reduzierte Gedanken zu Tage die Sloterdijk als Denker irgendwo zwischen Melancholiker, geistigem Herzchirurg und Diva zeigen.


Vieles, was so zwischen 2008 und 2011 geschah, nächste Vergangenheit, wird mal mit einem Satz, mal mit längeren Gedanken bedacht. Sehr vieles auch gar nicht erwähnt und stattdessen über französische Autoren gemeckert oder ihr neuestes Werk klar, böse und klug zerpflückt.


Über die Absichten hinter einem Buch, die Netzwerke erfährt man einiges, ohne dass man das Gefühl des Voyeurismus oder dumpfen inner-geistesbetrieblichen Rechnungsbegleichung bekäme.

Auch über PS eigene Projekte, das Philosophische Quartett, die Rezeption seiner Sendung (und dass ihm das etwas bedeutet, ihm den Buchmensch) den Umgang des Senders mit dem Quartett, gibt es durchaus erhellendes zu erfahren.

Dass er stolz ist, eine lebhafte Diskussion im Anschluss an einen Vortrag gehabt zu haben und dass er in der Lage war, seine Gedanken auch sortiert zu verbalisieren, macht Sloterdijk sympathisch und belegt, dass er trotz Routine durchaus noch das Sensorium (und das Interesse) hat, durchzudringen mit seinen Ideen.


Sloterdijks „Bastardtheorie“ geht einem irgendwann ein wenig auf die Nerven, weil er das „Bastardische“ im Kunstbetrieb, der Psychoanalyse, der Politik, den Geisteswissenschaften oder historischen Ereignissen sehen will. Die Ideen selbst bringt wenig Erkenntnisgewinn bei gleichzeitiger Herabwürdigung der Personen.


So mancher im Buch namentlich Angesprochene wird nicht froh sein, über die verstreuten Urteile und Gedanken. Aber hätte er das alles rausgestrichen wäre wohl zu viel NUR-Nachdenken über Bücher (eigene und von anderen) übrig geblieben. So erfährt man nebenbei (oder ahnt) wo die Konfliktlinien zwischen Sloterdijk und den Medien verlaufen, zwischen Denkerschulen und den Schreihälsen anderer Berufe. Wir erfahren vom Unibetrieb und die humorvolle Show-Feindschaft zwischen ihm und Slavoj Zizek, die beide pflegen.

Feuilletonistisches gibt es auch, klug und prägnant formuliert, witzig oft, ein bisschen böse, vor allem oft beeindruckend Verbindungen findend zwischen Lektüren und Denkern zu den alltäglichen Ereignissen in der Welt.


Als Teaser ein paar PS...


Ulrich Beck rechnet unter die Virtuosen der vagen Rede, die es vorziehen, ungefähr recht zu behalten, als sich genau zu irren.


Wie man sieht, ist der Hass ohne den Willen zur Trivialisierung nicht zu haben.


In Insolvenz gehen, heißt unter kontrollierten Bedingungen verlieren.


Der White Cube ist ein Derivat des Kunstbuchs. Er entstand, als das Bedürfnis aufkam, einen betretbaren Bildband zu schaffen.


Nach einem Terroranschlag: Unter allgemeiner Anteilnahme vollzieht sich unter dem Vorwand der Tatortsicherung das bekannte Ritual zur nachträglichen Verhinderung des Geschehens.


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