Stewart O‘Nan: alle, alle lieben dich, rowohlt 411 Seiten

Autorenratgeber empfehlen ein Geheimnis oder ein großes Rätsel in die Geschichte einzubauen. So werde der Leser bei der Stange gehalten. Wohl ein Grund, warum Thriller und Krimis immer zu den bestverkauften Büchern gehörten. Auch die „echte“ Literatur nutzt die Technik dieser Genres mitunter. Der Klappentext verspricht hier aber zu viel, wenn er den Roman einen Thriller nennt. Im Grunde ist es alles andere als das. O‘Nan wollte wohl ein Drama in Thriller Manier erzählen. Das ist aber nicht gelungen.


Es geht um die Dynamik in und außerhalb der Familie nach dem Verschwinden von Kim, der 18 jährigen Tochter. Kim ist hübsch, eigenwillig, charakterstark, hat einen netten Freund und jobbt in einer Tankstelle mit ihrer besten Freundin in diesem letzten Sommer, bevor alle ans College aufbrechen. Sie leben in einer Kleinstadt an der I-90 irgendwo in der Pampa der USA, Kims Papa ist Immobilienmakler in der Krise und Mutti eine Quartalstrinkerin, die pubertierende kleine Schwester eine Lisa Simpson: die kluge, schüchterne, eigenbrötlerische Loserin neben der großen, strahlenden, beliebten Schwester.


Dann verschwindet Kim spurlos und die nächsten 350 Seiten handeln vom Suchen, Zweifeln, Glauben und Bangen. Zunächst wird die Geschichte noch vom „Was zu Hölle ist mit ihr passiert?“ getragen. Die unterschiedlichen Mutmassungen und Reaktionen von Freunden und Familie tragen die Handlung. Allein, die „Geheimnisse“, die durch das Verschwinden ans Licht kommen, sind genau wie die Charakterzüge der Figuren leider recht banal: ein bisschen Drogen, eine Liebschaft mit einem älteren Mann zwielichtiger Art und eine Charakterkrise bei den Freunden, die nicht wissen, wie sie sich in der Welt der Erwachsenen verhalten sollen, Schuldgefühle usw. Klar, für die Eltern muss das die Hölle sein, aber auch diese Empathie trägt nicht über Seite 200 hinaus.


Seitenlang wird Kleinstadtsolidarität, USA mässig professionelles Community Engagement, inklusive Gottesdiensten, Schweigeminuten bei Footballspielen, Spendenmarathon, freiwilligen Suchmannschaften, Spendenwebseiten, Hotlines, Vermisstenplakaten erzählt. FBI, Statepolice und Sheriff Kram erfährt man gar nicht, außer, dass er wohl stattfindet und wenn, dann mit allen zur Verfügung stehenden Techniken und Personen. Die kleinen Geheimnisse und Lügen werden zwar zur Spannungserzeugung genutzt, dann aber gar nicht erzählt, sondern nur, dass sie nun rausgekommen sind. So erscheint das Buch seltsam löchrig und zugleich viel zu breit erzählt, wandelt in den Beziehungen und echten Dynamiken zwischen den Figuren im Ungefähren.


Dann tauchen auch Frauenleichen auf, die aber nicht Kim sind. Hier gelingt zumindest der Effekt, dass man wie die Figuren nicht weiß ob man sich wünschen soll, sie wäre es, damit das Bangen ein Ende hat, oder sie wäre es nicht, damit man weiter hoffen kann - auch ein Jahr danach.

Aber im Grunde sind auch die Beschreibung dieser Emotionen bei Mum und Dad zu vorhersehbar und banal, wie auch die scheinbar sich zerlegende Ehe der beiden oder die Abkapselung der kleinen Schwester mitten in der Krise.

Für ein Buch dieser Länge alles zu offensichtlich: Entfremden und Finden, Mutti wird Chefstrategin für die Öffentlichkeitsarbeit, engagierte Fernsehauftritte inklusive, Papa hat in seiner persönlichen Jobkrise zumindest eine neue Aufgabe gefunden, bis er irgendwann wieder ein Haus verkauft (auch das wird dann ausführlich erzählt), die kleine Schwester wird zur jungen Frau, die Freunde von Kim leben ihr Leben weiter und machen mehr oder weniger einen gewissen Wandel durch, ob durch Kims Verschwinden oder einfach so.

Am Ende wird tatsächlich durch eine leicht Irre (allzu sehr Ghost in the Machine, aber irgendwie auch very USA) die Leiche gefunden. Und das war es dann.


„Letzte Nacht“ von O‘Nan war ein kleines, dichtes, knappes Meisterwerk. Dies ist ein aufgeblähtes Möchtergern-Thriller-Drama, das mich ermüdete. O‘Nan kennt sein Land und seine Leute, ohne Frage, aber kann dem wenig Neues oder Überraschendes hinzufügen, das wir nicht schon aus Film und Fernsehen kennen. Am Ende sagt man fast schulterzuckend, ,Ja schrecklich so was‘, legt das Buch weg wie man im Fernsehen umschaltet.