Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt, Hanser, 238 Seiten

Oh ja! Es war ein gutes Jahr als Leser von Kurzgeschichten. Nach den grandiosen, wirklich sehr, sehr besonders guten Geschichten in „10. Dezember“ nun deutsche Erzählungen zu lesen, die ganz anders, aber ganz anders genau so gut sind - war erleichternd. Wir haben auch solche Autorinnen.


Von der ersten bis zur letzten Story tolltolltoll, ohne dass es wie bei so vielen Erzählungsbänden starke Unterschiede in Qualität und Drive gäbe. Alle sind die Variationen der Themen Tod, Krankheit, Liebe, Verlust. Und was bitte sollte mehr mit dem Leben zu tun haben, schwieriger erzählerisch glaubwürdig zu fassen sein und welche Themen könnten zugleich universell und so tiefgründig sein? Antwort: Keine. Und das muss man erstmal hinbekommen dann.


Das Witzige: Habe das Buch geschenkt bekommen und gar nicht darauf geachtet, dass es Erzählungen waren. Einfach angefangen mit der ersten, „il Commandante“ und dachte es wäre das Kapitel eines Romans. Wurde reingezogen, dachte, wow, das geht ja richtig los, wo wird das wohl noch hinführen - und dann war die Geschichte vorbei. Die zweite, grandiose Geschichte, „Cowboy und Indianer“ spielte dann aber nicht mehr im Krankenhaus und die krebskranke junge Mädchen, das auf ihren Freund wartet, war offenbar in die Wüste der USA geflüchtet, wo sie einen Indianer auf dem Weg zu einem Powwow trifft, aber viel schief geht und dabei alles gut wird.

Hat ein paar Seiten gedauert, bis ich bemerkte, das ist eine ANDERE Geschichte. Aber wieder der Effekt, dass aus diesen Miniaturen gefühlt ein ganzer Roman werden kann.


Viele der Geschichten sind wie Fotografie, wo der Rahmen als Begrenzung des Bildes zwar fix ist, aber der Bildaufbau eben so gestaltet sein kann, dass man spürt, dieses Bild ist Teil einer größeren Welt oder eben so, dass das Bild für sich steht, der Rahmen auch das Ende des Motivs darstellt.

Und so funktionieren diese Geschichten häufig als Teil einer großen und ganz-großen Geschichte, die unser Leben ist, oder DAS Leben.


Eine Geschichte wird mit Postkartenmotiven und den Postkartentexten erzählt und sind nochmals eine Verdichtung der Form. Mit einem Ende, das kitschig sein könnte, es aber sowas von GAR nicht ist.

Oder die noch kürzeren, noch mehr reduzierten Familienportraits, Minigeschichten vom Scheitern von Liebe und Familie.

Oder die titelgebende Geschichte, wie Tagebuchauszüge eines Verlusts verfasst. oder Wild ist scheu, ebenfalls ein Tagebuch. Allerdings diesmal von der anderen Seite, der sich selbst Auslöschenden her erzählt. Oder, oder...


Klingt alles düster. ist es auch manchmal. Meist aber eher melancholisch, aufmerksam, wach und wahr. Und deshalb sicher noch eins der besten Bücher, das ich die letzten Jahre gelesen hab.


(Nur, sorry Hanser Verlag: Das Cover ist Mist!)


Christian Caravante